Annette Tairi hat am 24. Juli 2010 ihre Tochter Kathinka bei dem Loveparade-Unglück in Duisburg verloren. Sie war damals 19. „In vier Jahren ist sie schon so lange tot wie ich sie hatte“, sagt die 63-Jährige gegenüber DER WESTEN. „Wahnsinn.“
Ja, Wahnsinn. 15 Jahre ist es schon her, dass 21 Menschen in der Besuchermenge starben. Vor fünf Jahren wagten Angehörige eines spanischen Todesopfers einen letzten Versuch, die Schuldigen vor Gericht zu bringen. Doch es kam nie zu einer Verurteilung. Warum das für Tairi in Ordnung ist und wie sie nach dem Tod ihrer Tochter ein neues Leben beginnen konnte, erzählt sie im Interview mit DER WESTEN.
15 Jahre nach Loveparade – Betroffene blickt zurück
15 Jahre nach der Loveparade, wie fühlt sich das an? „Komisch“, sagt Tairi erst einmal. Doch sie hat mittlerweile damit abschließen können, mit dem Tod ihrer Tochter, mit dem Fakt, dass es keine Schuldigsprechung gab. „Ich bin schon weiter. Mein Kind wird mir immer fehlen. Sie ist in meinem Herzen. Der Schmerz kommt ab und zu. Aber ich habe jetzt ein neues Leben.“ Dennoch fährt die 63-jährige Frührentnerin jedes Jahr aus Rheinland-Pfalz zur Gedenkfeier in Duisburg, um ihrer Tochter zu gedenken, aber auch, um die anderen Eltern zu treffen, die ihr in all der Zeit bereits „wie eine Familie“ ans Herz gewachsen sind.
Einer unserer Redakteure war auch vor Ort: Ich überlebte die Loveparade-Katastrophe knapp – so fühle ich mich acht Jahre später
„Meine Tochter war sehr verrückt nach Loveparade“, erzählt sie. Schon mit 13 wollte sie dorthin. Mit 17 war sie in Dortmund, mit 19 dann in Duisburg. Tairi erinnert sich daran, wie sie so etwas wie eine telepathische Verbindung spürte. „Mir zog’s die Brust zusammen“, beschreibt sie diesen Moment. „Später habe ich mitgekriegt, dass das ungefähr die Todeszeit meiner Tochter war.“
„Für mich war das die Hölle“
Das sind Erinnerungen, die immer wieder hochkommen. Direkt danach versuchte sie ihre Tochter in Videos zu finden. „Ich habe immer wieder gucken müssen. Ich konnte es nicht sehen, aber ich konnte es auch nicht lassen.“ Wenige Jahre später erfährt sie von einer anderen Besucherin, die mit ihrer Tochter zusammen dort war, dass beide auf dem Boden gelegen hatte. Kathinka wurde unter den Massen zerquetscht, rief nach ihrer Mutter. Die andere Besucherin hatte Glück.

„Für mich war das die Hölle, mir vorzustellen, das Kind liegt am Boden und kann nicht weg. Ich wäre durchgedreht, wenn ich das am Anfang gehört hätte. Das hätte ich nicht verkraften können.“ Doch heute kann Tairi es: „Ich bin damit durch“. Und damit meint sie, dass sie persönlich für sich einen Abschluss gefunden hat. „Ich komme damit zurecht. Meine Fragen sind alle geklärt.“
„Es haben genug Leute gelitten“
Oft denkt sie noch an ihrer Tochter und an den „Lebenstraum“, den sie hatte. Kathinka hätte ihren Freund, mit dem sie drei Jahre zusammen war und der sie zur Loveparade begleitet hatte, geheiratet, Tairi hätte sich um die Enkelkinder gekümmert. „Das war mein Lebensziel.“ Doch dann kam alles anders. „Wenn man nur ein Kind hat und das wird genommen, das ist brutal.“
+++ Auch aktuell: Schreckliches Unglück auf Parookaville-Gelände: Mann nach Sturz in Lebensgefahr! +++
Als ihr dann die Soforthilfe angeboten wurde, wollte die Mutter das Geld zuerst nicht annehmen. „Das ist Blutgeld, ich will das nicht“, sagte sie damals zu ihrer Hausärztin, die sie dann aber doch überzeugte. Viel wichtiger war ihr damals die Aufklärung des Falls vor Gericht. Als Nebenklägerin machte sie und macht sie auch heute noch das Land, den Bürgermeister und den Veranstalter Rainer Schaller verantwortlich. „Der ist ja auch schon tot. Der hat seine Strafe schon gekriegt.“
Mehr Themen:
Heute ist ihr nur noch wichtig, dass man aus dieser Tragödie vor 15 Jahren etwas gelernt hat. Und das Gefühl hat sie auch, wenn sie sieht, wie heute Veranstaltungen geplant werden. „Es haben genug Leute gelitten“, findet Tairi einen Abschluss. Ihr hätten die jährlichen Gedenkveranstaltungen, die Duisburger Stiftung und die Unterstützung der anderen betroffenen Familien sehr geholfen. Dies gehört nun zu ihrem Leben dazu, spendet ihr Trost und gibt ihr Kraft. Ein Leben ohne Kathinka, ein anderes Leben als sie es sich vorgestellt hatte. Aber irgendwie muss man ja weitermachen.