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Essen: Tafel-Chef schlägt jetzt Alarm – „Müssen jetzt Berufstätige versorgen“

Jörg Sartor ist sauer. Als Chef der Essener Tafel bekommt er tagtäglich viel Leid mit. Nun melden sich auch immer mehr Berufstätige bei ihm.

© IMAGO / biky

Das ist Hartz IV

Das ist Hartz IV

Jörg Sartor ist sauer. Als Chef der Essener Tafel bekommt er tagtäglich mit, wie sehr sich die Lage für ohnehin schon gebeutelte Sozialleistungsempfänger, Rentner und Geringverdiener in den letzten Monaten zugespitzt hat. Helfen kann die Tafel aber längst nicht allen, denn die Plätze sind begrenzt. Dass nun auch noch Menschen um Hilfe bitten, die trotz Arbeit nicht über die Runden kommen, sei eine Katastrophe.

Handlungsbedarf sieht Sartor bei der Regierung, es dürfe jedoch nicht zu weiteren „Schnellschüssen“ kommen. Auch für Lebensmittel- und Energiekonzerne sei es an der Zeit, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, statt sich die Taschen vollzumachen. All jene, die sich bereichern, während unzählige Menschen kaum noch wissen, wie sie sich und ihre Familie ernähren sollen, bezeichnet der Essener Tafelchef als „Drecksäcke“.

Essener Tafel platzt aus allen Nähten – immer mehr Anfragen von Berufstätigen

Bei der Essener Tafel fragen in letzter Zeit vermehrt Arbeitnehmer an. Das gab es früher nicht. Doch in Zeiten von Inflation und Ukraine-Krise hat sich vieles verändert, die Lage ist ernst. „Fakt ist, dass Geringverdiener je nach familiärer Konstellation durchaus nahe an die Sozialleistungsgrenze kommen“, erklärt Jörg Sartor, Leiter der Essener Tafel, gegenüber unserer Redaktion. Addiere man alle Hartz-4-Leistungen wie die übernommene Rundfunkgebühr oder das Sozialticket, könne es sein, dass einem Berufstätigen weniger Geld zum Leben bleibe als einem Sozialhilfeempfänger. Hinzu komme, dass die Energiekostenerhöhung von Arbeitenden selbst getragen werden muss.

„Ich hatte vorgestern einen jungen Mann aus Syrien da, der zwischen 1.200 und 1.400 Euro zur Verfügung hat. In einem Monat waren es sogar nur 1000 Euro. Er zahlt aber über 800 Euro Miete und hat zwei Kinder“, exerziert Sartor die Problematik an einem konkreten Beispiel durch. „Mit der Nachschlagserhöhung und allem Drum und Dran bleiben der Familie 300 Euro, zieht man die Kosten für Fahrten mit dem Nahverkehr ab, leben sie quasi nur vom Kindergeld.“ Der Mann habe zwar theoretisch Anspruch auf Wohngeld und andere Leistungen, wolle diese aber nicht in Anspruch nehmen. „Wenn die Geringverdiener ihre Ansprüche auch wahrnehmen, wird sich das vielleicht wieder einrenken, aber viele wollen das nicht. Man kann nicht sagen, ein Hartz-4-Empfänger hat mehr als ein Mensch der arbeiten geht, aber es gibt diese Fälle.“

Jörg Sartor übt scharfe Kritik an Energie- und Lebensmittelkonzernen

Dem ersten Vorsitzenden der Essener Tafel ist es wichtig, dass seine Aussagen nicht missinterpretiert werden. „Die Botschaft ist nicht, dass Hartz-4-Empfänger zu viel bekommen!“ Viel eher laute die Devise: „Was kann das arme Schwein dafür, dass es arbeiten geht?!“ Die Politik müsse handeln, sich sinnvolle Maßnahmen überlegen, statt mit Schnellschüssen Chaos zu stiften. „Ich würde mir wünschen, dass das Geld nicht mit der Gießkanne, sondern mit Verstand verteilt wird.“ Als Beispiele für fragwürdige Entscheidungen der Regierung nennt Sartor unter anderem die Gaspreisbremse oder das neuste Hin und Her in Bezug auf die Rente.



„Rentner und Sozialhilfeempfänger sagen klar, sie bekommen seit Jahren Leistungen, kamen immer klar, jetzt aber nicht mehr. Obwohl diese Leute die Hauptlast, also die Heizkosten, gar nicht selbst tragen, geraten sie wegen der Strompreise und Co. in Not.“ Auch wenn man die Lebensmittelpreise sehe, erschrecke man sich. Ein Versagen sieht Sartor jedoch nicht nur in der Politik. „Die Regierung ist nicht allein schuld, auch die Energiekonzerne knallen blind drauf.“

Dass der Preis für eine Gurke um 25 Prozent steige, nur weil der Spritpreis um 25 Prozent hochklettere, hält der Tafel-Chef für unverständlich. Die reale Kostensteigerung für Anbau, Transport und Co. rangiere nämlich in einem viel niedrigeren Prozentbereich. Viel eher versuchten Lebensmittel- und Energiekonzerne von der Krise zu profitieren. „RWE wollte die Unterstützung als einzige nicht haben, die anderen Drecksäcke halten die Hände auf“, wird er deutlich. Der finale Appell des Essener Tafelchefs: „Die Gießkanne ist nicht das richtige Mittel“.