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Essen: Stadt will Traditionsmarkt plötzlich loswerden – Kunden sauer: „Zum Kotzen!“

Essen: Stadt will Traditionsmarkt plötzlich loswerden – Kunden sauer: „Zum Kotzen!“

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Essen: Der Obst- und Gemüsehändler hat jahrzehntelange Erfahrung. Foto: Nicolas Kaufmann

Essen. 

„Hier, für die Pflaumen.“ Said Lali reicht ein Preisschild. Einer seiner Mitarbeiter legt gerade die Schalen auf die gestapelten Kisten vor dem Stand. Dann ruft eine Mitarbeiterin auf der Rückseite des Standes: „Eisbergsalat 1 Euro?“ Lali bestätigt kurz. Eine andere Verkäuferin legt mehrere Eisbergsalate dazu.

Der 50-jährige Lali betreibt den Obst- und Gemüsestand an der Kettwiger Straße in der Innenstadt von Essen. Es ist Freitag, kurz vor zehn Uhr, als ich ihn und vier seiner Mitarbeiter dort antreffe. Der Stand in Essen ist bereits mit Obst und Gemüse gefüllt, der Aufbau läuft aber weiter auf Hochtouren.

Essen: Achtköpfiges Verkäuferteam gibt täglich alles

Noch ist nicht die komplette Ware eingeräumt. Ein paar Kisten und Kartons stehen herum. Hinter dem Stand: mehrere Paletten. Und ein paar Meter dahinter Lalis Lkw mit geöffneter Ladeklappe.

Lali hat zwei Mitarbeiter, die sich mit vollem Einsatz um den Aufbau kümmern. Zwei weitere Mitarbeiterinnen sind hauptsächlich im Verkauf tätig. Der beginnt um acht Uhr. Und die ersten Kunden sind auch schon da: Sie kaufen beim Vorbeigehen Äpfel, Bananen oder Möhren. Ein Mann kauft einen Orangensaft, den die Verkäufer vor Ort pressen.

+++ Essen: Massenschlägerei mitten in der Innenstadt +++

Dann kommt eine ältere Dame. Sie will Mangos haben. Schließlich nimmt sie noch zehn Clementinen, eine Packung Paprika, Zwiebeln und Cherrytomaten. Sie fragt noch nach einer Schale Erdbeeren und nach Blumenkohl. Als sie bezahlt, ist ihre Tüte prall gefüllt. Die Verkäuferin Claudia Möhlke legt den Einkauf in den Wagen, den die Dame dabei hat.

Seit ungefähr zwei Jahren ist Lali der Chef des Obst- und Gemüsestands. Er übernahm den Traditionsstand damals, der seine Anfänge in den 70er Jahren hat. Seitdem spielt sich dieses Szenario zwischen den Geschäften auf der Kettwiger Straße sechs Mal pro Woche ab. Sonntags ist Ruhetag. Lali und sein Team wirken routiniert. Nachdem der gebürtige Marokkaner um fünf Uhr morgens die Ware vom Großmarkt einkauft, beginnen er und sein Team um sieben Uhr mit dem Aufbau. Der Verkauf geht dann bis etwa 20 Uhr. Danach müssen sie noch rund 1,5 Stunden abbauen.

Es geht weiter mit den Preisschildern. Möhlke holt die Schilder aus einer Kiste. Lali bestätigt ihr, dass die Preise stimmen. Denn je nachdem zu welchen Preisen er die Ware morgens beim Großmarkt einkauft, passt er die Preise entsprechend an. Die Verkäuferin verteilt die Schilder schließlich an dem Stand. Währenddessen schiebt einer der beiden Aufbauer eine Palette mit Orangen seitlich zwischen Vorder- und Rückseite des Standes. Dann zieht er die Plastikwand dahinter ein Stück weit zu. Es weht eine eisige Luft an diesem Tag. Und es wird ein langer Tag.

Ich kämpfe inzwischen mit der Kälte. Meine Handschuhe behindern mich dabei, Notizen zu machen und ohne Handschuhe friert meine Hand beim Schreiben fast ein. Ich einige mich auf einen Kompromiss und schreibe teils mit und teils ohne Handschuhe. Und nicht umsonst trägt Lali eine dicke Wollmütze und einen Fleecepullover.

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Schichtdienst mit Humor

Der andere Aufbauer bringt einen Sack Zwiebeln an den Stand. Lali wird jetzt da gebraucht. Er sagt seinem Mitarbeiter, dass er die Zwiebeln aus der Verpackung nehmen und lose in die Kiste einsortieren soll. Hinter dem Stand legt Lalis Mitarbeiter Paletten und Kisten aufeinander. Er räumt sie in den Lkw.

Um elf Uhr ist der Stand endlich vollständig aufgebaut und alle Verpackungen in dem Lkw verstaut. Lali hat es eilig. Er will seinen Lkw von der Straße wegfahren. Sechs Stunden ist der Mann mit dem Schnurrbart bereits auf den Beinen. Neben ihm verlassen auch die beiden Aufbauer den Stand. Sie sind ein eingespieltes Team und arbeiten in zwei Schichten. Jeweils drei Verkäufer pro Schicht.

Lali ist ein erfahrener Mann im Obst- und Gemüsehandel. Als Kind kam der 50-Jährige nach Deutschland und verkauft nun seit über 20 Jahren Obst und Gemüse. Bevor er den Verkaufsstand auf der Kettwiger Straße im Oktober 2007 übernahm, arbeitete er auf Wochenmärkten. Der heutige Obst- und Gemüsestand des Marokkaners ist damit längst zum Markenzeichen der Essener Innenstadt geworden.

Bis Lali am Nachmittag wieder an seinem Verkaufsstand arbeitet, springt sein Neffe Karim für ihn ein. Der 22-Jährige gehört fest zum insgesamt achtköpfigen Team und ist der stellvertretende Leiter. Allmählich sind auch die umliegenden Geschäfte geöffnet. Die Menschen in der Innenstadt sind sichtlich mehr geworden. Das spüren auch die drei Verkäufer an dem Obst- und Gemüsestand.

Eine Kundin kauft Kohlrabi und Möhren. Als sie ihr Geld rausholt, sticht ihr der Bund Minze ins Auge. Sie nimmt einen Bund und bezahlt. Auf der Vorderseite des Standes ist das Obst platziert. Dort animiert die zweite Verkäuferin Kunden und Passanten: „Nicht vorbeilaufen, sondern ein Paar schöne Himbeeren kaufen.“ Schließlich probiert ein Pärchen Trauben. Zugleich steht ein älterer Mann mit Sonnenbrille und Mütze auf der anderen Seite der Fußgängerzone. Er spielt Geige, wobei diese kaum zu hören ist. Immer wieder übertönen die Glocken aus dem Glockenspielhaus einige Meter die Kettwiger Straße runter die sanften Laute der Geige.

Verkaufsteam erhält Schocknachricht

Im September kam plötzlich die vernichtende Nachricht: Die Stadt kündigt Lali. Damit muss der Verkaufsstand zum 1. Januar schließen. Für Lali und seine Mitarbeiter nicht verständlich. Eine Verkäuferin, die ihren Namen nicht nennen will, sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Stand weggeht.“ Ich kann ihre Enttäuschung raushören. Dann führt sie fort: „Und ich frage mich, womit wir stören.“ Die Frau arbeite bereits seit 2008 an dem Obst- und Gemüsestand. Vor Kurzem sei sie aus der Mutterschaftszeit zurückgekehrt, als sie die „Bombennachricht“ erfahren habe. Ihre Kollegin Möhlke hofft indes ebenso auf eine Lösung. Die 49-Jährige sagt verzweifelt: „Ansonsten müssen wir zum Arbeitsamt.“

Bürger stehen hinter Lali

Auch viele Kunden können die Entscheidung nicht verstehen. Nach eigenen Aussagen hätten bereits 2.500 bis 3.000 Menschen die Unterschriftenaktion des Händlers unterschrieben. Neben einer Liste, die Unterstützer am Stand unterzeichnen können, hat Lali auch online eine Petition gestartet. Dort unterschrieben bis zum 10. Dezember gut 1.150 Personen. Zudem sagt er: „Die umliegenden Geschäfte möchten auch, dass wir bleiben.“ Sie sollen sich mit Briefen an die Stadt gewendet haben.

Tatsächlich bekomme ich die Solidarität der Kunden mit. Eine Frau unterschreibt den Zettel mit der Unterschriftenaktion, will aber nicht mit mir sprechen. Ein Mann, der im Durchschnitt sogar zweimal täglich bei Lali einkaufe, findet klare Worte: „Die Einstellung der Stadt ist zum Kotzen.“ Heute kauft er sechs Schalen Himbeeren. Bevor er geht, sagt er noch: „Es ist schade, aber was soll’s.“

Eine ältere Dame aus Rüttenscheid erklärt mir, warum sie den Verkaufsstand sehr vermissen werde: „Die Bedienung ist sehr nett, die Sachen sind sehr frisch.“ Sie kaufe zwar auch auf dem Rüttenscheider Markt ein, aber die Früchte von Lali seien einfach besser. Durch ihre Stimmlage merke ich, sie ist emotional betroffen. Auch die beiden Kunden wollen mir nicht ihren Namen verraten. Lali sagt, dass sogar Nicht-Kunden kommen und seine Unterschriftenaktion unterschreiben würden.

Lali und sein Team wollen somit auch nicht an ein Ende denken. Er sei zufrieden mit seinem Verkaufsstand in der Innenstadt und habe sich bisher keine Gedanken über eine Zukunft ohne diesen gemacht. Ein Neuanfang sei – auch aus finanziellen Gründen – schwierig. Außerdem weiß der Händler, dass selbst ein neuer Standort ein „Rückschritt“ wäre. Denn er lebe gerade von Kunden, die seit Jahren bei ihm einkaufen. Diese würde er dann wohl verlieren.

Somit wartet Lali nun mit Anspannung auf eine mögliche Lösung, die seinen Verkaufsstand noch retten könnte. Am 11. Dezember will die Stadt ein Konzept veröffentlichen, das mit Lali bis Jahresende eine Einigung anstrebt. Sollte das Konzept im ersten Schritt jedoch nicht überzeugen können, solle es auch über das Jahresende hinaus eine Übergangsregelung für den Stand geben, so der Oberbürgermeister Thomas Kufen.

Große Bedeutung für Innenstadt

Bevor ich gehe, sagt mir sein Neffe Karim noch: „Es ist schade, weil es kaum einen richtigen Obst- und Gemüsehandel auf der Kettwiger Straße gibt.“ Und tatsächlich hat er damit wohl recht. Zumindest gibt es in der Umgebung vermutlich kein Geschäft, das eine so große Auswahl führt: Über übliches Obst, wie Äpfel, Bananen und Birnen hinaus verkauft Lali auch Honigmelonen, Beeren, Granatäpfel und Ananas. An seinem Stand findet man sogar Datteln, Feigen, verschiedene Nüsse und Kastanien. Auch diverse Gemüsesorten als auch frische Petersilie und Minze gehören zum Sortiment. Die Gelegenheit nutze ich, um eine Schale Kakis zu kaufen. Ein Kilo für einen Euro. Dazu legt mir Karim Cherrytomaten kostenlos in die Tüte. (nk)