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Ein Jahr nach dem Doppelmord von Herne: Wie Marcel Heße das Ruhrgebiet in Atem hielt

Ein Jahr nach dem Doppelmord von Herne: Wie Marcel Heße das Ruhrgebiet in Atem hielt

Ein Jahr nach dem Doppelmord von Herne: Wie Marcel Heße das Ruhrgebiet in Atem hielt

Ein Jahr nach dem Doppelmord von Herne: Wie Marcel Heße das Ruhrgebiet in Atem hielt

Lebenslänglich! Ein Rückblick auf den Fall Heße

Am Mittwoch wurde das Urteil im Prozess gegen Marcel Heße gesprochen. Der Doppelmörder wurde zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Wir blicken zurück auf den Fall, der das Ruhrgebiet in Atem gehalten hat.

  • Vor einem Jahr, am 6. März 2017, ermordete Marcel Heße seinen Nachbarsjungen Jaden (†9)
  • Einen Tag später tötete er auch seinen alten Freund Christopher (†22) brutal
  • Drei Tage lang hat der Doppelmörder eine ganze Region in Angst und Schrecken versetzt
  • Eine Chronik der Ereignisse

Herne. 

Mitten im Prozess trägt er die Haare wieder raspelkurz. Eigentlich ein unbedeutendes Detail in einem Mordprozess – und doch geht ein Raunen durch den Zuschauerraum, als Marcel Heße mit geschorenem Kopf den Gerichtssaal betritt.

Denn jetzt sieht er wieder so aus wie auf dem Fahndungsbild, mit dem die Polizei deutschlandweit nach Heße suchte. Ein Bild, das Erinnerungen an drei Tage Ausnahmezustand weckt.

Am Anfang dieser drei Tage passierte eines der grausigsten Verbrechen der letzten Jahre in ganz Deutschland. Eine Tat, die Herne, das Revier und das ganze Land im Jahr 2017 stark bewegt hat.

Heute vor einem Jahr begannen die Schreckenstage von Herne.

Rückblick.

Montag, 6. März 2017

Marcel Heße plant seinen Tod. Der 19-Jährige ist zutiefst frustiert. Sein Traum, zur Bundeswehr zu gehen, ist geplatzt. Bald soll er mit seiner Mutter in eine andere Stadt ziehen. Er fürchtet, dort keinen schnellen Internetzugang mehr zu haben. Das, und so etwas wie eine allgemeine Wut auf die Welt lässt offenbar Suizidgedanken keimen.

Er kauft Grillkohle in einem Supermarkt, zündet den Grill in der schon ausgeräumten Wohnung seiner Mutter an. Das Kohlenmonoxid soll ihn vergiften – doch Heßes Suizidversuch scheitert.

Er kann sich selbst nicht umbringen – und sucht sich ein anderes Opfer, das er töten kann.

Es ist nicht das erste Mal, das Heße an Mord denkt. Im Prozess erzählt eine Schulkameradin, wie er ihr im März 2016 in einem Gespräch über Zukunftspläne einmal die Frage stellte: „Denkst du, ich habe das Zeug zum Serienmörder?“. Dummes Gerede, denkt die Schülerin. Ein Jahr später macht Heße den Gedanken wahr.

18.20 Uhr: Marcel Heße klingelt bei den Nachbarn. Den neunjährigen Jaden kennt er schon lange vom Sehen. Die Familien wohnen Wand an Wand.

Der 19-Jährige lockt das Nachbarskind in seinen Keller. Er brauche Hilfe mit einer Leiter, sagt er dem Jungen – und Jaden geht mit. 52 Mal sticht Marcel H. im Keller dann auf das Kind ein, zieht dem toten Jungen die Hose aus, macht Bilder von seiner Tat.

Um etwa 18.40 Uhr schickt er einem Bekannten Bilder von der Leiche und macht ein Selfie: Mit einer blutverschmierten Hand schaut er grinsend in die Kamera. Dann verschwindet er.

Gegen 19 Uhr meldet sich Heße noch einmal bei seinem Bekannten – mit Sprachnachrichten. „Habe den Nachbarn getötet“, sagt Heße darin mit fester Stimme, fast gelangweilt. „Wollte eigentlich ein Mädchen rüberholen und es vergewaltigen“.

Der Bekannte ruft noch nicht die Polizei – sondern lädt die Bilder bei der Plattform 4chan hoch. „Ich hatte das für eine gute Idee gehalten“, erklärt er im Prozess – seine Stimme bricht dabei fast, man spürt die Scham. Er habe wissen wollen, ob die Community die Bilder für echt hält. Die Polizei kontaktierte er erst, nachdem mehrere Nutzer ihm das nahelegt hatten.

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20 Uhr: Jadens Vater und ein älterer Sohn finden die Leiche des Neunjährigen im Keller des Nachbarhauses. Marcel Heße ist längst weg. Erst versteckt er sich In einem Waldstück, dann beschließt er, Unterschlupf bei seinem Bekannten Christopher W. zu suchen. Der wohnt auf der Sedanstraße, fünf Kilometer weit vom Tatort entfernt.

Dienstag, 7. März

10 Uhr: Immer mehr Menschen aus Herne und der ganzen Region kommen zum Haus von Jadens Familie. Sie wollen ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringen, legen Stofftiere im Vorgarten ab, entzünden Kerzen. Am Anfang ist es nur ein einzelner Teddy – am Ende des Tages sind es Dutzende.

Was jetzt noch niemand weiß: Marcel H. hat inzwischen zum zweiten Mal gemordet. Seinem Bekannten Christopher W. hatte er erzählt, dass er wegen des Umzugs seiner Mutter eine Übernachtungsmöglichkeit brauche. Christopher freut sich über den Besuch und zögert gar nicht erst: Er lässt Heße in seine Wohnung.

Christopher hatte das Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus. „Er hatte einen anderen Blick auf die Welt als wir Normalos“, erzählt seine Mutter im Prozess und berichtet von der ungeheuren Hilfsbereitschaft ihres Sohnes. „Einmal hat Christopher einem Obdachlosen etwas zu Essen gekocht. Ein richtiges Menü. Das hat er ihm auf einem kleinen Tischtuch serviert.“ Christopher konnte sich nicht wehren, der breitgebaute 1,85-Meter-Mann hatte Angst, anderen wehzutun.

Als Christopher W. aus den Medien erfährt, dass Marcel Heße gesucht wird, stellt er Heße zur Rede. Er ist ja sein Kumpel, kein Mörder. Er wird schon eine plausible Erklärung haben.

Das ist sein Todesurteil, wie es die Staatsanwaltschaft später formulieren wird. Heße geht auf Christopher los, rammt 68 Mal ein Messer in den Körper des 22-Jährigen. Dabei verletzt er sich selbst an der rechten Hand. Schließlich erdrosselt er ihn mit einem Judogürtel.

16 Uhr: Auf der anonymen Plattform 4chan tauchen Leichenbilder im berüchtigten Random-Chatroom auf. Heße hat auch von seinem zweiten Opfer Aufnahmen gemacht. Im Chatroom schreibt er: „Ich habe mich in die Hand geschnitten, als ich das 120 kg Biest bekämpfte. Sie leistete mehr Widerstand als das Kind.“

Angeblich ist er 80 Kilometer mit dem Zug gefahren. Die Polizei veröffentlicht Teile aus dem Chat – in der Hoffnung, weitere Zeugen zu finden. Es sei nicht ausgeschlossen, dass es sich bei den Angaben im Internet um eine Falschmeldung handele, „aber die Gefahrenlage macht es nötig, das ernst zu nehmen.“

Mittwoch, 8. März

Die Angst in Herne hat jetzt einen Höhepunkt erreicht. Die Straßen sind leer, es gibt Gerüchte, dass Heße Jagd auf Kinder mache. Manche Eltern halten ihre Kinder im Haus und die Schulen verlegen die großen Pausen in die Gebäude.

9.30 Uhr: Bei der Polizei melden sich Immer wieder Zeugen. In Wetter soll Heße nahe einer Schule aufgetaucht sein. Die Polizei startet einen Einsatz vor Ort – erfolglos.

Marcel Heße macht jetzt Fehler. Er harrt immer noch in der Wohnung von Christopher W. aus, nutzt dessen Handy. Als Freunde und die Mutter Nachrichten schreiben, gibt er sich als Christopher aus und antwortet. Christophers bestem Freund Manuel G. kommen die Antworten komisch vor. Im Gericht erzählt er, wie er ein Treffen vorschlägt: Als Christopher nicht auftaucht, beschließt er, zur Polizei zu gehen.

Doch um 21.30 Uhr am Mittwochabend hat die Polizei immer noch keine konkrete Spur. Sie veröffentlicht das Bild eines Hundes, der einem möglichen Opfer gehören könnte. Später wird sich herausstellen: Das Bild ist ein Fake und hat nichts mit dem Fall zu tun.

Donnerstag, 9. März

8 Uhr: In Siegen und in Mönchengladbach soll Heße aufgetaucht sein: Beide Spuren laufen ins Leere, die Polizei bricht ihre Suchaktionen dort ab.

Bei Facebook zeigt sich derweil, wie groß die Verunsicherung in der Bevölkerung ist: Immer wieder tauchen Bilder von einem Jungen auf, der Heße sein soll: Mal ist das Bild angeblich in Duisburg entstanden, mal ganz woanders. Später stellt sich heraus: Auf dem Bild ist ein 16-Jähriger zu sehen, der Heße nur ein bisschen ähnelt: schlaksig, Brille, dunkelblonde Haare.

Marcel Heße merkt wohl, dass die Fahndung nach ihm immer intensiver wird. Und er ahnt wahrscheinlich, dass Christophers Freund wegen der Nachrichten, die er vom Handy seines Opfers geschickt hat, alarmiert ist.

Polizeistreifen fahren unentwegt durch Herne, Beamte verteilen Handzettel und Fahndungsplakate. Heße hört und sieht die Hubschrauber, die über ihm am Himmel kreisen.

Gegen 20 Uhr beschließt er, sich der Polizei zu stellen. Vorher zündet er die Wohnung von Christopher an.

Die anderen Menschen im Mehrfamilienhaus an der Sedanstraße entgehen nur knapp einer Katastrophe. Ein Brandsachverständiger sagt im Gericht, dass das Haus regelrecht hätte explodieren können: Wäre die Feuerwehr nur Minuten später gekommen, hätte es ein Hölleninferno gegeben. Heße nahm das in Kauf.

21 Uhr: Mit einem Sack Zwiebeln in der Hand geht Marcel Heße zum „Thessaloniki-Grill“, kaum 100 Meter von der Wohnung entfernt. Christopher W. war hier oft Gast.

Er trägt Handschuhe, nur ein verbundener Zeigefinger ragt aus einem Loch. „Bitte rufen Sie die Polizei, ich bin Marcel Heße“, sagt er zu Imbiss-Besitzer Giorgios Chaitidis. Vollkommen ruhig sei er dabei gewesen, wird Chaitidis später erzählen. „Wie ein ganz normaler Junge“. Chaitidis‘ Frau ruft die Polizei und reicht den Hörer an Marcel Heße.

Im Prozess wird ein Mitschnitt des Telefonats abgespielt, das Heße mit den Beamten führt. Völlig ruhig und fast ein bisschen amüsiert klingt er. „Der Name Marcel Heße sagt Ihnen ja sicher was“, sagt er. „Ich bin das.“

Während er auf die Polizei wartet, holt er sein Handy aus der Tasche und bittet den Imbissbesitzer, den Akku zu entfernen. Er selbst kann es mit seiner verletzten Hand nicht. Dann zerbricht er das Telefon. Um Beweise zu vernichten, wie er sagt.

Widerstandslos lässt er sich festnehmen. Noch die ganze Nacht sind SEK-Beamte an der Sedanstraße und sichern den Tatort.

„Eiskalt“ nennen ihn die Ermittler später. Seine Aussage gibt er nahezu emotionslos zu Protokoll, Details im Ablauf sind ihm sehr wichtig. Was in Marcel Heße vorgeht, warum er zwei Menschen getötet hat, ist auch nach etlichen Prozesstagen nicht wirklich klar.

Der Tod seiner Opfer scheint ihn nicht zu berühren, in einer Art Manifest versteckt er sich hinter einem abstrusen Philosophie-Mix aus Buddhismus und Existenzialismus. Im Prozess spricht er selbst nie.

Nur einmal zeigt er so etwas wie Bedauern: Knapp drei Wochen vor dem Urteil schreibt er einen Brief an seine Mutter, der im Gericht verlesen wird. Er habe begriffen, was er angerichtet habe, als die Mutter von Christopher als Zeugin aussagen musste. Vielleicht ist sein Brief ehrlicher Ausdruck – vielleicht ist er kaltes Kalkül; das jedenfalls hält ihm der Anwalt von Christophers Mutter vor.

Die Frage nach dem „warum“ bleibt vielleicht für immer ungeklärt. Die Staatsanwaltschaft spricht von einem ganzen Motivbündel: Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben, Geltungssucht, sadisitsche Neigung. Laut psychologischem Gutachten hat Marcel Heße eine dissoziale Persönlichkeitsstörung – aber er gilt als voll schuldfähig.

Im Gutachten wird eine Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht empfohlen – obwohl Marcel Heße zum Tatzeitpunkt erst 19 Jahre alt war.

Am 31. Januar folgt das Landgericht der Empfehlung und verurteilt Marcel Heße zu einer lebenslänglichen Haftstrafe. Die Begründung des Gerichts lautete, dass „eine besondere Schwere der Schuld“ vorliege. Heße sei deshalb nicht nach Jugendstrafrecht zu verurteilen gewesen. Eine Sicherheitsverwahrung ist vorbehalten.