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Strafrecht nach Fall Luise (†12): DARUM wäre Gefängnis für Kinder falsch – „Billige Antwort“

Der Fall Luise löste eine Diskussion um das Strafrecht für Kinder aus. Ein Experte erklärt, warum es falsch ist die Altersgrenze nach unten zu verschieben.

Strafrecht-Diskussion nach Fall Luise
© Oliver Berg/dpa

Getötete Luise: Wüst trägt sich in Kondolenzbuch ein

Ministerpräsident Hendrik Wüst hat sich am Samstag in Freudenberg bei Siegen in ein Kondolenzbuch für die getötete 12-jährige Luise eingetragen.

Durch den Fall um die getötete Luise (†12) durch Gleichaltrige in Freudenberg in NRW ist eine Diskussion über die Herabsetzung des Alters der Strafmündigkeit entbrannt. Eine Online-Petition mit über 160.000 Unterschriften fordert daneben auch eine Verurteilung. Auch eine Gewalttat durch minderjährige Mädchen in Heide (Schleswig-Holstein) treibt die Diskussion aktuell voran.

„Das sind extreme Fälle und auch extrem seltene Fälle“, meint Jurist Tobias Singelnstein. Man sei grundsätzlich nicht gut beraten, anhand solcher Extremfälle eine generalisierende Regelung zu entwerfen. Der Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Frankfurt erklärt im Interview mit dieser Redaktion, warum es aus seiner Sicht falsch ist, das Alter der Strafmündigkeit beispielsweise auf 12 herabzusetzen.

Strafrecht: „Welchen Sinn und Zweck soll es haben?“

„Welchen Sinn und Zweck soll es haben, diese Kinder zu bestrafen?“, fragt Singelnstein. Es gebe zahlreiche Möglichkeiten zu reagieren. „Es gibt zivilrechtliche und jugendhilferechtliche Möglichkeiten zu intervenieren, wenn man feststellt, dass das Elternhaus oder das soziale Umfeld nicht in der Lage sind, mit den Problemen umzugehen“, erklärt der Professor für Strafrecht.

„Warum es ausgerechnet die Strafe sein muss, erschließt sich mir nicht. Das ist eine billige Antwort auf ein Geschehen, dass für alle schwer zu fassen und zu ertragen ist.“ Es sei einfach zu sagen: „Ihr seid böse, deshalb bestrafen wir euch jetzt.“

Singelnstein hält es nicht für richtig, das Alter runterzusetzen. Denn: „Die fachwissenschaftliche Position ist sich relativ einig, dass 14 Jahre eine sinnvolle Grenze ist.“ Diese Altersgrenze gilt in Deutschland seit 1923. „Zwischendurch wurde das im Nationalsozialismus auf 12 Jahren abgesenkt, ist dann aber wieder angehoben worden“, erklärt Singelnstein.

Jugendstrafrecht verfolgt anderen Zweck

Der Gesetzgeber habe „eine generelle Grenze gezogen, damit nicht jeder Einzelfall geprüft werden muss“, so Singelnstein. „Der Gesetzgeber hat sich angeschaut was Medizin, Psychologie, Erziehungswissenschaften, Soziologie dazu sagen, wann Kinder und Jugendliche die notwendige Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit haben, Unrecht als solches zu erkennen und dementsprechend zu handeln.“

Im Paragraph 19 Strafgesetzbuch (StGB) ist festgelegt: „Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.“ Wie der Strafrechts-Professor erklärt, setze das deutsche Strafrecht Schuld voraus. „Das heißt: Wir dürfen nur bestrafen, wenn jemand schuldhaft gehandelt hat, also auch anders hätte handeln können. Das setzt eben voraus, dass man schuldfähig ist und dafür muss man in der Lage sein einzusehen, was Unrecht ist und gemäß dieser Einsicht zu handeln.“

Bei Kindern unter 14 Jahren gehe man davon nicht aus. Auch ist der Sinn und Zweck der Jugendstrafe ein anderer. „Wir haben ein spezielles Strafrecht für Jugendliche und Heranwachsende, dort thront der Erziehungsgedanke über allem“, so Singelnstein. „Das heißt: Generalpräventive Überlegungen wie Abschreckung oder auch Vergeltung spielen keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle.“ Ganz im Vordergrund stehe die Überlegung, wie man diese jungen Menschen, die sich noch in der Entwicklung befinden, erzieherisch am sinnvollsten erreichen könne.

Strafrecht: „Bilden gerade erst eine Identität aus“

Die Grenze von 14 Jahren im Strafrecht gilt mit der Ausnahme während der NS-Zeit also schon seit 100 Jahren. Immer wieder wird in der Diskussion um das Strafmündigkeitsalter das Argument eingebracht, Kinder und Jugendliche seien heutzutage reifer als damals.

Doch laut Singelnstein bedarf es keiner Neubewertung: „Die Diskussion entsteht in einer Regelmäßigkeit alle zehn Jahre, immer wenn es einen krassen Fall gibt, der die Öffentlichkeit beschäftigt.“ Doch mit einer Neubewertung solle man sehr zurückhaltend umgehen.

„Ohnehin kann bei jungen Menschen eine strafrechtliche Intervention auch kontraproduktiv sein, also nicht nur positive, sondern auch sehr negative Auswirkungen und Folgen haben“, mahnt Singelnstein. Strafverfolgung und Sanktionierung seien stigmatisierende Akte.

„Menschen, die gerade dabei sind, eine Identität auszubilden und ihre Persönlichkeit zu entwickeln, werden durch solche Situationen in einer ganz anderen Art und Weise geprägt als es bei Erwachsenen der Fall ist“, erklärt der 46-Jährige. Es könne zum Beispiel auch dazu führen, „dass diese die Zuschreibung ‚du bist ein Straftäter, ein Krimineller‘ durch solche Akte in ihrem Selbstbild erst übernehmen und sich dadurch erst in diese Richtung entwickeln.“

Strafrecht: In manchen Ländern strafmündig ab 10 Jahren

In anderen Ländern wie den USA, der Schweiz oder England liegt die Grenze bei 10 Jahren. Der UN-Ausschuss für Rechte des Kindes hat 2007 empfohlen, die Grenze nicht unter 12 zu legen. In Deutschland habe der Gesetzgeber diesen Diskussionen widerstanden.

„Da die Fachwissenschaft sich relativ einig ist, bin ich optimistisch, dass die Ampel-Koalition sich da nicht auf einen Pfad begeben wird, von dem man sagen muss, dass er kriminologisch wirklich vollkommen verfehlt wäre“, so der ehemalige Lehrstuhlinhaber für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum.