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Hartz 4: Empfängerin legt offen – Das ist das Schlimmste an der Armut

Vor allem Alleinerziehende sind oft von Armut betroffen. Eine davon berichtet über ihre Erfahrungen mit dem Hartz-4-System, fehlendes Geld und Klischees.

Janina Lütt kämpft auf einer Demo der #IchbinArmutsbetroffen Bewegung für Soforthilfe und Chancengleichheit.
© privat/Janina Lütt

Das ist das neue Bürgergeld

Nach der Einigung im Vermittlungsausschuss haben Bundestag und Bundesrat die Einführung des Bürgergelds beschlossen. Damit kann die neue Grundsicherung für Langzeitarbeitslose wie geplant zum 1. Januar in Kraft treten.

Hashtags auf Social Media können sich zu Bewegungen transformieren. Sie können gesellschaftliche Debatten anstoßen und auf Missstände aufmerksam machen. Und sie können den Menschen, die sonst oft nicht gehört werden, eine Stimme geben.

Der Journalist Christian Baron hat das bereits 2018 mit dem Hashtag #unten getan. All denjenigen, die gegen Vorurteile wegen Ihrer Herkunft kämpfen, unter prekären Bedingungen arbeiten oder den sozialen Abstieg fürchten, sollte Sichtbarkeit verschafft werden. Auch, wenn dieser Hashtag mit der Zeit wieder abebbte, hat sich doch eine neue Bewegung gegründet. Seit diesem Frühjahr können Menschen wie beispielweise Hartz-4-Empfänger unter #IchBinArmutsbetroffen ihre persönlichen Erfahrungen teilen.

Hartz 4: Armut Gesicht und Stimme geben

Janina Lütt ist Teil dieser Bewegung. „Der Hashtag kam auch aus Wut und Verzweiflung“, erzählt sie. Bereits nach den ersten zehn Tagen versammelten sich darunter rund 60.000 Tweets. „Aufgrund des Ukraine-Kriegs, der Inflation und der steigenden Preise, die wirklich jeden betreffen, haben wir das große Glück, als Armutsbetroffene wahrgenommen zu werden“, betont die 46-Jährige.

Gemeinsam mit ihrer neunjährigen Tochter wohnt Janina Lütt in einer Eineinhalb-Zimmerwohnung in Elmshorn, in Schleswig-Hollstein. Auf Twitter schreibt die Hartz-4-Empfängerin, dass sie seit 23 Jahren „arm“ ist. „Das bedeutet für mich einfach, dass ich sehr oft in meinem Leben vom Hartz-4-System abhängig gewesen bin“, erzählt Lütt im Gespräch mit dieser Redaktion.

Janina Lütt hat Abitur und eine abgeschlossene Berufsausbildung im sozialen Bereich. „Nach meiner Ausbildung war ich eineinhalb Jahre arbeitssuchend, ich war angestellt, habe aber für so wenig Lohn gearbeitet, dass ich auch in das Spektrum armutsbetroffen reingefallen bin“, so Lütt. Seit 2010 bekommt die 46-Jährige die volle Erwerbsminderungsrente zum Hartz-4-Satz. Gemeinsam mit dem Regelsatz ihrer Tochter und mit Abzug aller Fixkosten (Strom, Internet, Fitnessstudio, Versicherung) hat sie rund 550 Euro unter anderem für Lebensmittel, Kleidung und Mobilität im Monat zur Verfügung.

Hartz 4: #IchBinArmutsbetroffen hilft Vorurteile abzubauen

Lütt ist erwerbsunfähig. Vor ihrer Erkrankung an Depressionen konnte die gelernte Erzieherin auch noch in dem Bereich arbeiten. „Leider nur eine kurze Zeit, aber durchaus eine Zeit, die ich genossen habe. Ich war Gruppenleiterin im Kindergarten, ich war Einrichtungsleiterin in der Jugendarbeit, hauptsächlich in Problemvierteln, weil mir das sehr am Herzen liegt“, so die 46-Jährige.

Da sie selbst eine traumatische Kindheit durchleben musste, verstehe sie diese Kinder besonders gut. Das fehle ihr heute. „Mittlerweile ist das aber gesundheitlich nicht mehr drin. Momentan bin ich mit meiner Tochter und den Lebensumständen genug beschäftigt“, berichtet Lütt per Videotelefonat aus ihrem Schlafzimmer, das gleichzeitig auch als Esszimmer, Büro und Küche dient.

Hartz 4: „Das wichtigste ist, dass wir einander haben“

Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen wolle Lütt vor allem mit Klischees und Vorurteilen Schluss machen. So höre sie auch immer von anderen Betroffenen, die ebenso wie die alleinerziehende Mutter an Depressionen leiden, dass sie doch trotzdem arbeiten könne. Die 46-Jährige klärt immer wieder auf: „Ich habe in den zwanzig Jahren an mir gearbeitet, habe Therapien gemacht, ich gehe drei mal die Woche zum Sport, ich bin körperlich total fit, aber meine Psyche macht nicht mit.“

Mittlerweile spricht Lütt offen über ihre Armutsbetroffenheit. Gerade in diesem Thema steckt viel Scham, wenige trauen sich, darüber offen zu sprechen. „Aber meine Armut ist Fakt, ich lebe damit und will das nicht mehr verstecken“, betont die Alleinerziehende. Auch ist Lütt nicht alleine, in Deutschland sind rund 13,8 Millionen Menschen armutsgefährdet.

Wenn ihre Tochter sie fragt, ob sie arm sei, antwortet Lütt: „Ja, aber wir haben es gut, wir haben eine Wohnung, ein Dach über dem Kopf und was zu essen und das Wichtigste ist, dass wir einander haben!“

Janina Lütt kämpft auf einer Demo der #IchbinArmutsbetroffen Bewegung für Soforthilfe und Chancengleichheit.
Janina Lütt kämpft auf einer Demo der #IchbinArmutsbetroffen Bewegung für Soforthilfe und Chancengleichheit. Foto: privat/Janina Lütt

In Läden zu shoppen, einfach Dinge zu kaufen, die einem gefallen, das kenne die 46-Jährige nicht. „Ich kann es mir einfach nicht leisten, mein Kind in H&M groß werden zu lassen.“ Lütt kaufe deshalb viel auf Flohmärkten und Secondhand, auch sei sie auf Spenden von Freunden angewiesen.

Der Hartz-4-Regelsatz sieht im Monat rund 155 Euro für Lebensmittel vor. „Zum 20. des Monats könnte ich mir ohne meine Freunde, die mir Geld leihen, keine Lebensmittel mehr leisten“, erzählt die 46-Jährige. Deshalb muss die alleinerziehende Mutter auch auf die Tafel zurückgreifen. „Mittlerweile ist es eine Selbstverständlichkeit, armutsbetroffene Menschen einfach zur Tafel zu schicken. Die Tafel fängt das auf, was der Sozialstaat eigentlich auffangen sollte. „

Hartz 4: „Gesellschaft kann nicht auf schwächeren Gliedern rumhacken“

Den Wechsel von Hartz 4 auf das neue Bürgergeld findet Lütt einen „Schritt in die richtige Richtung“. Dennoch gehöre sie zu der Gruppe, die neben der Erhöhung von 53 Euro, nicht profitiere.


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Doch gerade die Debatte um die neue Sozialreform und das „Armutsbashing“ habe sie schockiert. „Da habe ich wirklich Angst bekommen und mich gefragt: Welches Menschenbild wird hier eigentlich propagiert?“ Es müsse dringend etwas passieren, es könne nicht sein, dass eine Gesellschaft auf schwächeren Gliedern herumhacke.