Über 200 Kulturschaffende fordern den Bundeskanzler auf, Israel zum Waffenstillstand zu zwingen. Aber warum erst jetzt? Ein Kommentar.
Die schauerlichen Bilder von Hungernot und Verwüstung im Gazastreifen sind in der öffentlichen Berichterstattung gerade so dominant wie noch nie. Doch die Welt schaut der Katastrophe nicht tatenlos zu: humanitäre Hilfe, Geldspenden und Volontäre – oder wenigstens Worte des Trostes – strömen Richtung Palästina. Und nun, fast ein Jahr nachdem in Gaza ein regelrechter Blitzkrieg ausgebrochen ist, bekennen 200 deutsche Promis – von Ski Aggu bis Daniel Brühl – endlich auch ihre Farbe.
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In einem offenen Brief an den Bundeskanzler Friedrich Merz verweisen sie auf das Leid der Kinder in Gaza und fordern ein entschlossenes Handeln der Bundesregierung für die Zivilbevölkerung. Die Tatsache, dass im aktuellen Israel-Palästina-Konflikt vor allem die Zivilisten den größten Schaden verkraften müssen, ist keineswegs neu. Warum erhebt die Promi-Szene denn erst jetzt ihre Stimme? Steckt dahinter wahres Mitgefühl und Tatendrang – oder bloß die Angst, als “Genozidleugner” in die Geschichte einzugehen – und damit ihre Fans zu vergraulen?
Stellungnahme hätte auch früher erfolgen können
Kunst, Sport, Musik – das alles muss nicht unbedingt politisch sein, doch Künstler, Sportler und Musiker haben durchaus ein Recht darauf, ihre politische Einstellung bekanntzugeben. Besonders, wenn es um das menschliche Leid geht. Die Sache ist, dass man im Falle einer derartigen humanitären Katastrophe normalerweise keine zehn Monate braucht, um mit der Sprache herauszurücken.
Die öffentliche Empörung über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ließ auf sich beispielsweise nicht so lange warten. Nur wenige Tage, nachdem der Antrag vom Bundestag bewilligt wurde, bekam der damalige Kanzler Olaf Scholz einen offenen Brief mit über 70.000 Unterschriften. Darin warnten viele Schriftsteller, Philosophen, Sänger, also Promis , vor der atomaren Eskalation und einem dritten Weltkrieg. Die Befürchtungen sind zwar nicht in Erfüllung gegangen, aber man hat sich trotzdem getraut, sich gegen die Bundesregierung zu stellen.
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Auch im Kontext des Palästina-Konfliktes gibt es ein Beispiel sofortiger Positionierung von Kulturschaffenden. Nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 und einer flächendeckenden Bodenoffensive israelischer Streitkräfte gründeten mehrere US-Künstler einen Verein, der sich für den Waffenstillstand in Gaza einsetzt – Artists4Ceasefire. Das Künstlerkollektiv verfasste an den damaligen US-Präsidenten Joe Biden ebenfalls einen offenen Brief, der die Unterschriften von namhaften Schauspielern und Musikern wie Jennifer Lopez und Tom Hardy trug.
Mehr Wirkung durch kollektives Engagement?
Man kann sich vorstellen, wie viel Druck man bei einem solch großen Publikum aushalten muss. Nur eine falsche Wortwahl oder unangemessene Geste können die Produzenten abschrecken und die Karriere vor die Hunde gehen lassen.
Außerdem kann man alleine nicht viel bewegen – auch mit Millionen aktiver Zuhörer auf Spotify. Masse erzeugt Wirkung, und deswegen braucht man Gleichgesinnte. Die zu finden, zu überzeugen und zu koordinieren braucht Zeit und Mühe. In diesem Sinne: besser spät als nie.
Das geschlossene Auftreten der deutschen Promiszene – auch Monate nach dem Krisenbeginn in Gaza – kann eigentlich gut abgepasst sein. Gerade jetzt, wo immer mehr Länder wie Großbritannien, Frankreich und Kanada dabei sind, Palästina als Staat anzuerkennen, während die CDU-Regierung dem eher unwillig zusieht, ist ein kräftiger Schwung aus dem deutschen Kulturbereich nötiger denn je.