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Warum die Call-Center-Branche in einer tiefen Krise steckt

Warum die Call-Center-Branche in einer tiefen Krise steckt

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Call-Center-Branche im Ruhrgebiet Foto: WAZ FotoPool
Klagen über lange Warteschleifen und schlechte Löhne haben die Call-Center-Betriebe in Verruf gebracht. Harry Wassermann, Vorstandschef des Branchenriesen SNT Deutschland, spricht im Interview offen über das miese Image, erste Firmeninsolvenzen und die Fehler der Branche.

Essen. 

Der Call-Center-Betreiber SNT Deutschland AG ist eine Tocherfirma des niederländischen KPN-Konzerns. SNT zählt in Deutschland mit einem jährlichen Umsatz von rund 90 Millionen Euro und 3300 Mitarbeitern an sieben Standorten zu den großen Call-Center-Unternehmen. Die Firmenzentrale befindet sich in Frankfurt, Call-Center-Standorte sind in Berlin, Essen, Potsdam, Neubrandenburg, Greifswald und Chemnitz. Zu den Kunden von SNT gehören unter anderem Nespresso und Unitymedia. Allein in Essen beschäftigt SNT rund 500 Mitarbeiter. Harry Wassermann, ein gebürtiger Wiener mit deutschem Pass, ist seit Oktober 2005 Chef von SNT Deutschland und spricht in unserem Interview über das schlechte Image der Branche – und warum eine Marktbereinigung per Mindestlohn notwendig ist.

Herr Wassermann, Call-Center werden von vielen Menschen nur noch als lästig empfunden. Kunden klagen über schier endlose Warteschleifen, Beschäftigte über eine schlechte Bezahlung. Muss das sein?

Wassermann: Nein, es geht auch anders. Aber richtig ist: Es gibt schwarze Schafe, die unanständig niedrige Löhne zahlen, den Wettbewerb verzerren und das Image der Branche ruinieren. Natürlich stimmt bei diesen Unternehmen meistens auch der Service nicht.

Selbst große Unternehmen aus der Branche kämpfen um ihre Existenz. Steckt das Geschäftsmodell Call-Center in der Krise?

Wassermann: Die Branche ist nicht gesund. Wir erleben einen grässlichen Preiskampf, der viel kaputt macht und zu Insolvenzen führt. Ja, die Branche steckt in der Krise. Das bekommen auch wir zu spüren, obwohl SNT schuldenfrei ist und stabiles Wachstum verzeichnet.

Was läuft falsch?

Wassermann: Die Erwartungshaltung, dass Kundenservice am besten gar nichts kosten soll, ist falsch. Die gesamte Branche hat leider daran mitgewirkt, dass solche Erwartungen entstehen konnten. Außerdem regieren in vielen Unternehmen Finanzchefs, die vor allem auf permanente Einsparungen pochen. Es funktioniert einfach nicht, alles immer günstiger haben zu wollen bei gleichzeitigem Service zu jeder Tag- und Nachtzeit. Gute Leistung hat ihren Preis.

Viele Call-Center-Betreiber haben doch mitgemacht und ihre Büros für den deutschen Markt nach Polen, Rumänien oder in die Türkei verlagert?

Wassermann: Ich bin überhaupt kein Freund von solchem Nomadentum. Ich finde den Ansatz grundfalsch, alles immer billiger machen zu wollen, bis es vielleicht nur noch einen Euro oder ein paar Cent kostet. Wo soll das denn enden? Eine Zeitlang wollten viele Call-Center-Betreiber nach Istanbul ziehen, doch da ist es einigen mittlerweile auch schon wieder zu teuer, also geht es weiter nach Rumänien. Ich kenne viele Fälle, in denen auch die Auftraggeber am Ende todunglücklich waren.

Auf andere zu schimpfen ist leicht, auch bei Ihnen im Unternehmen gibt es nur wenige Besserverdiener.

Wassermann: Ich räume gerne ein: Das Lohngefüge in der gesamten Branche – auch bei uns – entspricht nicht ansatzweise der Komplexität der Arbeit. Die Löhne sind auf einem unerträglich niedrigen Niveau. Ich würde unseren Mitarbeitern gerne das Doppelte bezahlen.

Warum tun Sie es nicht einfach? Wo liegt denn Ihre Rendite?

Wassermann: Unsere Umsatzrendite vor Steuern und Abschreibungen liegt im Schnitt bei sieben Prozent. Die Gehälter, die wir zahlen, hängen von dem ab, was unsere Auftraggeber bereit sind für Kundenservice zu bezahlen. Und da es bislang immer jemanden gab, der es noch billiger angeboten hat, ist auch die Bereitschaft der Auftraggeber nicht da, mehr als diesen „Marktpreis“ zu bezahlen. Ich hoffe, es gibt bald einen Mindestlohn von 8,50 Euro, damit die ruinöse Konkurrenz ein Ende hat.

Es geht ums Arbeitsklima: Warum Beschäftigte sich krank melden 

Was zahlen Sie denn im Schnitt?

Wassermann: In Essen erhalten unsere Beschäftigten im Schnitt 8,57 Euro pro Stunde. Unser monatliches Einstiegsgehalt liegt hier bei 1455 Euro brutto. Natürlich gibt es auch Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge sowie leistungsorientierte Zulagen.

Nur wer eine bestimmte Leistung zeigt, bekommt entsprechende Gehälter?

Wassermann: Nein. Unser Geschäftsmodell ist nicht provisionsgetrieben, die entscheidende Größe sind feste Monatsgehälter. In einigen wenigen Bereichen setzen wir zusätzlich auf Provisionen.

Und wer nicht genügend Verträge abschließt, fliegt irgendwann raus?

Wassermann: Quatsch. Damit es zu einer Kündigung kommt, muss ein Mitarbeiter schon groben Unfug anrichten.

Üben Sie Druck auf die Beschäftigten im Alltag aus?

Wassermann: Der Schuss geht doch sofort nach hinten los. Druck macht die Leute krank – und mein Ziel ist es ja gerade, die Krankenquote zu verringern.

Wie viele Mitarbeiter fallen jeden Tag aus?

Wassermann: Im Schnitt sind sieben bis acht Prozent der Belegschaft krankgemeldet. Diese Werte wollen wir verbessern. Wir sind jahrelang in die falsche Richtung gelaufen. Wir haben gedacht, die Menschen seien wirklich krank. Als Reaktion haben wir Grippeschutzimpfungen angeboten. Dass die Ursachen für Krankmeldungen tiefer liegen, haben wir erst erkennen müssen. Es geht um ein gutes Arbeitsklima.

Was machen Sie heute anders?

Wassermann: Call-Center müssen nicht hässlich sein, auch keine Legebatterien. Zu einem guten Arbeitsklima gehört auch, dass es für unsere Mitarbeiter in den Büros Obst, Kaffee, Tee und Wasser kostenlos gibt. Und wer bei uns arbeitet, bekommt ein Smartphone gratis – inklusive 50 Euro als Gesprächsguthaben pro Monat.

Lassen Sie uns die Perspektive der Anrufer einnehmen. Es kommt vor, dass ein Anrufer 40 oder 50 Minuten in Warteschleifen hängt. Ist das eine Zumutung oder Alltag?

Wassermann: Ganz klar eine Zumutung. Ich selbst werde schon nervös, wenn ich länger als zwei Minuten warten muss.

Woran liegt es, dass es trotzdem häufig nicht innerhalb von zwei Minuten klappt?

Wassermann: Die Auftraggeber geben uns sogenannte Servicelevels vor, die wir einzuhalten haben. Ein üblicher Servicelevel ist, dass 80 Prozent der Anrufe innerhalb von 20 Sekunden beantwortet werden müssen. Wenn Sie länger in der Warteschleife hängen, nimmt entweder der Auftraggeber einen deutlich niedrigeren Servicelevel in Kauf, weil der natürlich nicht so viel kostet, oder es sind unvorhergesehene Ereignisse, die plötzlich ein hohes Anrufvolumen hervorrufen, beispielsweise eine großräumige technische Störung.

Bleiben also in der Regel 20 Prozent der Anrufe, bei denen es länger dauert als 20 Sekunden, bis eine Antwort kommt.

Wassermann: Es gibt Tages- und Uhrzeiten, zu denen es eng werden kann. Klar ist doch: Unsere Auftraggeber verlangen einen bestimmten Service von uns. Und ich bekomme Stress, wenn wir diese Service-Levels nicht einhalten.

Oft haben Call-Center-Mitarbeiter schnell genug von der Branche. Wie lange bleibt ein Beschäftigter bei Ihnen in der Regel im Unternehmen?

Wassermann: Oft sind es etwa drei Jahre. Die Fluktuation zu verringern, ist eines unserer großen Ziele.

Es geht nicht um die große Karriere 

Wer heuert bei Ihnen an?

Wassermann: Ich habe hier alles, den gesamten Durchschnitt der Bevölkerung. Ehemalige Steuerberater oder Ärzte, ehemalige Friseure oder Feuerschlucker. Unsere Belegschaft ist so bunt wie das Leben. Wir haben auch einige Menschen, die Schicksalsschläge hinter sich haben oder von familiären Problemen geplagt werden. Daher beschäftigen wir auch einen Sozialarbeiter, der sich um diese Leute kümmert – komplett anonymisiert natürlich. Bei uns bekommen Menschen mit dieser Unterstützung ihr Leben besser in den Griff.

Ein Unternehmen als Auffanggesellschaft auf dem Arbeitsmarkt?

Wassermann: Nicht grundsätzlich, aber in einigen Fällen sind wir schon die letzte Stufe vor Hartz IV. Wir bieten Sicherheit im Leben, eine gewisse Regelmäßigkeit, ein Einkommen. Um die große Karriere zu machen, kommt selten jemand zu uns. Wer bei uns anfangen möchte, muss aber auch keinen Beauty-Contest absolvieren oder im Stechschritt über die Teppiche einer Konzernzentrale eilen.

Glauben Sie, Opelaner werden bei Ihnen anheuern, wenn in Bochum keine Autos mehr gebaut werden?

Wassermann: Machen wir uns nichts vor: Wer bei Opel gearbeitet hat, konnte ein Vielfaches im Vergleich zu unseren Gehältern verdienen.

Wie viele offene Stellen haben Sie?

Wassermann: Ich könnte 30 bis 40 Leute sofort einstellen. Schon jetzt zählen wir rund 500 Beschäftigte in Essen. Bei uns entstehen Arbeitsplätze, und wir suchen permanent neue Leute. Nebenbei bemerkt: Es wäre toll, wenn die Arbeitsagentur mehr Leute zu uns und weniger zu Zeitarbeitsfirmen schicken würde.

Wer bei Ihnen arbeitet, muss damit rechnen, dass seine Gespräche mitgeschnitten werden. Geht es auch darum, Druck auf die Beschäftigten ausüben zu können?

Wassermann: Nein. Richtig ist: Eine gewisse Zahl von Telefonaten wird mitgeschnitten, damit unsere Auftraggeber selbst hören können, wie es um den Service steht. Die Mitschnitte sind kein Instrument, um jemandem Angst zu machen. Eigene Schwächen zu erkennen und sich zu verbessern, das wollen unsere Leute auch.