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Clankriminalität in NRW: Zahlen zeigen – Problem ist weitaus schlimmer als bislang gedacht

Clankriminalität in NRW: Zahlen zeigen – Problem ist weitaus schlimmer als bislang gedacht

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Clankriminalität in NRW: Zahlen zeigen – Problem ist weitaus schlimmer als bislang gedacht

Clankriminalität in NRW: Zahlen zeigen – Problem ist weitaus schlimmer als bislang gedacht

So werden kriminelle Clans in NRW bekämpft

NRW-Innenminister Herbert Reul und Essens Polizeipräsident Frank Richter erklären die Strategie zur Bekämpfung der kriminellen Clans.

Essen. 

Der Slogan wird allmählich greifbar. Seit Monaten spricht NRW-Innenminister Herbert Reul von einer „Strategie der 1000 Nadelstiche“, von einer „Null-Toleranz-Politik“.

Dabei geht es um die Bekämpfung der Clankriminalität, die sich in NRW zu einem handfesten Problem entwickelt hat.

Kriminelle Clans in Essen: Regeln des Staates sind ihnen egal

Die Gründe dafür sind vielschichtig: Die meisten Mitglieder der sogenannten Libanesen-Clans kamen in den 70er und 80er Jahren nach Deutschland.

Viele stammen ursprünglich aus der Türkei, sind in den Libanon geflohen, lebten dort am Rande der Gesellschaft. „Sie haben gelernt, sich auf sich selbst und die Familienstrukturen zu verlassen, um zu überleben“, sagt Clan-Experte Thomas Jungbluth vom Landeskriminalamt (LKA) bei einer Tagung in Essen.

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Dass die Familien dieses Prinzip hierher importiert haben, ist ein Problem: Manchen der Clan-Mitglieder sind die Regeln des Staats egal, für sie zählen nur die Regeln des Clans.

Bislang ging man von etwa 50 Clans in NRW aus, die beobachtet werden müssen. Inzwischen ist die Rede von fast 100, die vom LKA beobachtet werden, so Thomas Jungbluth.

Die Zahlen, die er präsentiert, sind erschreckend: Zwischen 2016 und 2018 sind demnach in NRW 14.225 Delikte erfasst worden, die im Zusammenhang mit Clankriminalität stehen.

Schon Kinder aus Clanfamilien fallen auf

In 5.605 Fällen ging es um Gewaltdelikte. Das passt zur Einschätzung der Behörden, laut der die Clanmitglieder im Gegensatz zu anderen Gruppen im Bereich der organisierten Kriminalität besonders aggressiv und offensiv auftreten. Das fange schon in der Schule an. „Kinder aus solchen Familienclans verhalten sich häufig aggressiv gegenüber anderen Schülern und fallen auf“, so Jungbluth.

In jeweils 2600 Fällen ging es um Eigentumsdelikte und Betrug, in 1000 Fällen um Drogenkriminalität, vor allem um den Straßenhandel mit Drogen. Dazu komme eine sehr hohe Dunkelziffer, so der Clan-Experte des LKA.

Jede fünfte verdächtige Person ist eine Frau

6449 Tatverdächtige wurden zwischen 2016 und 2018 ausgemacht, jede fünfte Person ist eine Frau. Die allermeisten Verdächtigen (2177) gab es in Essen, gefolgt von Recklinghausen (648) und Gelsenkirchen (570).

Viele der Familien führen ein normales Leben in Deutschland, haben mit Verbrechen nichts am Hut. Aber im Laufe der Jahre entwickelte sich nach Einschätzung von Experten kriminelle Gruppierungen, die in einer Parallelwelt leben.

Clans: „Mythos der Unangreifbarkeit zerstören“

Jahrelang hatten sie offenbar den Eindruck, machen zu können, was sie wollen. „Diesen Mythos der Unangreifbarkeit wollen wir zerstören“, so Thomas Jungbluth.

Die Strategie: 1000 Nadelstiche. Man will den kriminellen Clanmitgliedern nichts mehr durchgehen lassen. „Das fängt schon beim Falschparken an “, sagt Pascal Weise von der Polizei Dortmund. Bei Razzien gegen Clans, die in manchen Ruhrgebietsstädten fast wöchentlich stattfinden, kontrollieren die Beamten verstärkt auch Autos.

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Denn schnelle Edelkarossen sind ein Prestigeobjekt in Clankreisen – man kleckert nicht, man protzt. Immer wieder komme es vor, dass einzelne kriminelle Clanmitglieder in der Tuningszene mitmischen oder an illegalen Autorennen teilnehmen. „Wenn wir dann so ein getuntes Fahrzeug beschlagnahmen, fühlen sich die Clanmitglieder empfindlich gestört.“

Illegale Autorennen und Tuning

Um die Clans an möglichst vielen Punkten zu treffen, arbeiten die Behörden eng vernetzt zusammen. „Wenn so ein getuntes Auto aus dem Verkehr gezogen wird, prüft die Stadt, ob der Halter vielleicht noch Außenstände hat, ob noch ein Bußgeld offen ist oder ähnliches“, erklärt Sylvia Uehlendahl von der Stadt Dortmund.

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In Essen geht man ähnlich vor. Zwei Staatsanwälte bearbeiten seit neuestem ausschließlich Clandelikte, arbeiten Hand in Hand mit Stadt und Polizei.

Das Ziel: Einerseits sollen kriminelle Clanmitglieder regelrecht zermürbt werden. Andererseits soll ihnen signalisiert werden: Ihr könnt eben nicht alles machen, was ihr wollt – denn das hat Folgen.

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Woher kommen die Clans?

  • Wenn die Rede von kriminellen Araber-Clans ist, sind meist Mitglieder von Großfamilien mit türkisch-arabischen Wurzeln gemeint. In Deutschland gehören nach Schätzungen des Bundeskriminalamts (BKA) rund 200.000 Menschen zu solchen Großfamilien.
  • Die meisten von ihnen sind nicht kriminell. Manche aber haben sich zu mafiösen Gruppierungen zusammengeschlossen, nutzen familiäre Strukturen für kriminelle Geschäfte.
  • Sie leben häufig in einer abgeschottenen Parallelwelt, erkennen staatliche Strukturen nicht an. Straftaten werden zu internen Probleme erklärt, die innerhalb der Familien von sogenannten Friedensrichtern geregelt werden.
  • Die meisten haben eine türkische (15 Prozent) oder libanesische (31 Prozent) Staatsangehörigkeit, 36 Prozent haben eine deutsche Staatsangehörigkeit, fünf Prozent sind staatenlos.
  • Ausweisungen von Intensivtätern sind entsprechend schwierig

Mhallami kamen aus der Türkei

  • Das wesentlichste Kriterium der Zugehörigkeit des Einzelnen zum Clan ist die tatsächliche familiäre Verwandtschaft. Viele stammen ursprünglich aus dem Libanon, aus Syrien, dem Irak oder der Türkei. Vor allem im Ruhrgebiet wird häufig von Libanesen-Clans gesprochen. Gemeint sind dann kriminelle Mitglieder von Familien, die ursprünglich aus der Türkei und aus Syrien stammen. Sie gehören zu den sogenannten Mhallami, einer arabischstämmigen Volksgruppe.
  • Viele von ihnen wurden nach dem Ersten Weltkrieg aus der Türkei vertrieben und siedelten sich im Libanon an – oft fehlten ihnen die Mittel für Pässe und eine Einbürgerung. Hier lebten viele der Familien am Rand der Gesellschaft Als dort Bürgerkrieg ausbrach (1975 bis 1990), flohen viele der Familien nach Deutschland.
  • Viele haben in ihrer Fluchtbiographie gelernt, sich auf sich selbst und den Familienclan zu verlassen, wenn es ums Überleben geht. Diese Einstellung haben sie gewissermaßen importiert.

Clans in NRW: Viele Familienmitglieder haben nur einen Duldungsstatus

  • Sie kamen über Ost-Berlin in den Westen, beantragten Asyl und wurden auf verschiedene Bundesländern verteilt – vor allem nach Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen. Hier gab es einen Abschiebestopp, sie erhielten als Staatenlose direkt eine Duldung und blieben im Land. Bei nicht wenigen blieb der Duldungsstatus bestehen, über Generationen.
  • Menschen mit Duldungstatus haben es auf dem Arbeitsmarkt schwer: Eine selbständige Tätigkeit ist ihnen untersagt, eine Beschäftigung als Arbeitnehmer ist nur auf Antrag und nach Zustimmung durch die Ausländerbehörde möglich. Manche Experten sehen hierin eine mögliche Ursache dafür, dass sich aus der Perspektivlosigkeit heraus kriminelle Netzwerke innerhalb der Familien gebildet haben.