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Gladbach profitiert vom Effekt der gewonnenen Relegation

Gladbach profitiert vom Effekt der gewonnenen Relegation

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Vor einem halben Jahr trafen Borussia Mönchengladbach und der VfL Bochum in der Relegation aufeinander. Während Gladbach in der Bundesliga durchstartete, befindet sich der VfL in der 2. Bundesliga in einer Dauer-Krise. Wir haben darüber mit dem Sportpsychologen Thomas Graw gesprochen.

Essen. 

Ein halbes Jahr ist es nun her, dass sich Borussia Mönchengladbach und der VfL Bochum in der Relegation auf Augenhöhe begegneten. Im Mai setzten sich die Gladbacher in zwei Spielen (1:0, 1:1) gegen die Bochumer durch und blieben erstklassig. Von Augenhöhe ist jetzt nicht nur wegen der unterschiedlichen Ligen nicht mehr zu sprechen. Die Borussia begeistert die Bundesliga und hat sich in der Spitzengruppe festgesetzt, die Bochumer traten zum ersten Mal in ihrer Vereinsgeschichte ein zweites Zweitliga-Jahr in Folge an und kämpfen im Unterhaus gegen Abstieg. Hat der Erfolg oder Misserfolg etwas mit dem Relegationsspiel zu tun oder ist die Tabellensituation der beiden Vereine nur Zufall? DerWesten sprach mit dem Sportpsychologen Thomas Graw über die Auswirkungen der Relegation und die Psychologie im Fußball.

Herr Graw, kann man die Tabellensituation von Gladbach und Bochum mit dem Abschneiden in der Relegation erklären?

Thomas Graw: Grundsätzlich ist das nicht leicht zu erklären. Auf jeden Fall ist es nicht rein fußballerisch zu erklären. Fußball ist ein wirklich komplexes System und da können Kleinigkeiten in diesem System schon zu ganz anderen, großen Ausschlägen führen. Man kann diese Situationen der beiden Vereine allerdings gut aus psychologischer Sicht begründen: Auf der einen Seite steht die Verunsicherung beim VfL. Die ist extrem groß. Man brauch sich zum Beispiel nur die Fehlpassquote angucken. Auf der anderen Seite ist das Selbstvertrauen in Gladbach einfach enorm groß. Die gehen etwas selbstverständlicher und geduldiger auf den Platz, vor allem, weil sie sich nicht ständig Gedanken machen müssen. Diese beiden Situationen der Teams sind einfach offensichtlich.

Was ist das Offensichtliche?

Graw: Muss man überlegen, warum die Vereine in den entsprechenden Situationen sind. Das kann ich mir beim VfL Bochum nur so erklären: Der Verein zählt sich grundsätzlich zum Favoritenkreis der zweiten Liga, allein aus historischen Gründen. (Dem VfL gelang nach einem Abstieg immer wieder der direkten Aufstieg – vergangenen Saison ausgenommen. Amn. d. Red.). Außerdem rechtfertigt die Qualität des Kaders diese Einschätzung. Hinzu kommt das Erreichen der Relegation und die Möglichkeit, nach einer guten Aufholjagd, doch noch ins Oberhaus aufzusteigen. Das addiert ergibt den Anspruch, erstklassig spielen zu wollen. Wenn dieser Anspruch dann scheinbar nicht erfüllt wird, kann das schnell zu Verunsicherung führen. Freude und Leichtigkeit gehen verloren. Diese Freude und Leichtigkeit hat Borussia Mönchengladbach in dieser Saison.

Gladbach ist wieder wer

Was sie gleich zu Spitzenteam macht?

Graw: Nein, aber die Gladbacher glauben einfach wieder mehr an sich. Da herrscht eine Stimmung à la ‚wir können es ja doch‘. Wenn die Gladbacher Spieler mal einen Fehler im Spiel machen, zuckt die Mannschaft nicht gleich zusammen und verliert den Mut, sondern hakt das schnell ab, macht es in der nächsten Situation einfach besser.

Viel besser als mit einem Sieg gegen den deutschen Rekordmeister Bayern München hätte Gladbach gar nicht in die Saison starten können, oder?

Graw:Das hat auf jeden Fall seine Wirkung. Im Verein und dem gesamten Umfeld verstärkt das noch den Effekt der gewonnen Relegation. ‚Wir sind wieder da‘, ‚wir haben sogar Bayern geschlagen‘, ‚wir sind wieder wer‘ – das kann die gesamte Schmach der vergangenen Spielzeit abschütteln. Das unterstützt positive Mechanismen und Kräfte und dann geht man auch anders auf dem Platz.

Die positive Mechanismen sind: Der Zweitligist will aufsteigen, und hat die Chance, Bundesliga zu spielen – während der Erstligist meist um sein Platz im Oberhaus bangen muss. Häufig rutscht der Bundesligist ja noch unglücklich auf den Relegationsplatz…

Graw: Aber bei Gladbach war es andersherum. Die Borussia ist mit einem positiven Erlebnis in die Relegation gekommen. Nämlich mit dem Eindruck: ‚Wir haben es geschafft. Wir haben unsere Endspiele, um eine völlig verkorkste Saison doch noch zu retten‘. Ihr Ziel war ja, irgendwie noch diese Chance zu bekommen. Und das Ziel haben sie erreicht. Jeder weiß, wie es sich anfühlt, wenn man ein Ziel erreicht: Das schafft Erleichterung, macht stolz, das kann auch durchaus das Selbstvertrauen stärken. Wäre Gladbach zum Saisonende noch auf den Relegationsplatz abgerutscht, hätte es auch ganz anders ausgehen können. Dann wär mehr Frustration und Resignation im Spiel gewesen. Fußball

Frustration und Resignation beim VfL Bochum 

Frustration und Resignation – damit kann man den VfL Bochum momentan gut beschreiben. Hätte Bochums Ex-Trainer Friedhelm Funkel in der kurzen Sommerpause, nach der verlorenen Relegation und dem Saisonbeginn der zweiten Liga irgendwelche Hebel – auch psychologisch – ansetzen können?

Graw: Ich kann mir schon gut vorstellen, dass der Trainer das auch gemacht hat. Im Grunde hätte man an zwei Stellen psychologisch ansetzen können, gerade wegen der kurzen Regenerationspause. Zum einen kann man Regenerationszeit psychologisch unterstützen. Da gibt es mentale Techniken, Entspannungstechniken, die, wenn sie gut angewandt werden, die Regeneration intensivieren. In anderen Kulturen und in anderen Sportarten wird das praktiziert. Es geht darum, wieder zur Ruhe zu kommen, dass man sich auch geistig erholt von bestimmten Anstrengungen. Mediation ist ja kein Hokuspokus und das machen andere Sportler nicht aus Langeweile. Das hat sich über Tausende von Jahre kultiviert. Diese Mechanismen kann und sollte man auch nutzen. Eine Wirkung ist keine Glaubenfrage, sondern wissenschaftlich belegt. Zum anderen der VfL Bochum mehr als zehn Plätze gut gemacht bei der Aufholjagd zum Saisonendspurt. Das ist ein Erfolg, auf den man Stolz sein kann, mit dem man auch saisonübergreifend hätte arbeiten können.

Das ist der Konjunktiv – das wurde Ihrer Meinung nach nicht gemacht?

Graw: Das Problem ist, und da ist wahrscheinlich ein psychologischer Fehler gemacht worden – ohne dass ich nah an der Mannschaft war – dass eine Selbstverständlichkeit vermittelt wurde. Dass vielleicht gesagt wurde, es geht jetzt logischerweise so weiter. Getreu dem Motto: ‚Wir haben es allen gezeigt, jetzt werden wir so oder so unserer Favoritenrolle gerecht‘. Das ist häufig ein Fehler. Der Fußball ist so komplex, dass eine Mannschaft auch kleine Dinge in so einer Situation zurückwerfen können. Sei es Schiedsrichterentscheidungen, Verletzungen oder ähnlich Einflüsse, die man nicht eingeplant hat. Und plötzlich steht man nicht im oberen Tabellendrittel, sondern auf einem mittelmäßigen Platz und dann ist diese Selbstverständlichkeit eher ein Hemmnis, weil die Mannschaft da nicht drauf vorbereitet ist.

Der VfL sollte jetzt nicht „nicht ergebnisorientiert“ gecoacht werden

Andreas Bergmann, Bochums Trainer, hat gesagt, er verlangt kleine Schritt von der Mannschaft. Ein Sieg stünde nicht unbedingt im Vordergrund.

Graw: Das ist ein sehr guter Ansatz von Bergmann. Damit nimmt er den Druck von den Spielern und versucht, Stabilität in das Team zu bringen. Es ist klug, jetzt nicht ergebnisorientiert zu coachen, sondern einen Schritt in die richtige Richtung zu machen, darauf zu vertrauen, dass dann weitere Schritte folgen werden. Wichtig ist, ein mentales Fundament zu legen, auf dem Bergmann aufbauen kann. Die architektonischen Meisterwerke können dann folgen, wenn das Fundament liegt. Körpersprache, Selbstsicherheit und Selbstvertrauen sind jetzt wichtig für den VfL. Das macht Sinn und ich kann ihn da nur unterstützen.

Beim VfL Bochum wurde, auch unter Funkel noch, von einer ‚Negativspirale‘ gesprochen. Um ihr zu entrinnen sei nur ‚ein Erfolgserlebnis nötig‘ (Bochums Sportvorstand Jens Todt, Anm. d. Red.) – ein Erfolgserlebnis hat aber offenbar nicht gereicht.

Graw: Ich würde es auch nicht so deterministisch formulieren, die Chance bestand auf jeden Fall. Das kann sogar während eines Spiels passieren – wenn also ein Team, das schon resigniert hat, zum Beispiel durch einen Pfostenschuss oder ähnliches wieder wachgerüttelt wird. Das ist gut für die Stimmung, kann eine Art Initialzündung sein. Aber man muss auch vorsichtig sein, denn häufig legen Verantwortliche all ihre Hoffnung in so ein Erfolgserlebnis, weil man nicht davon ausgehen kann, dass es auf jeden Fall diesen Effekt hat. Und in Bochum zeigt sich dann auch, dass die Psychologie viel zu komplex ist, als dass man es an einem Erfolgserlebnis festmachen kann.

Viele Trainer sind nur Laien in Psychologie 

Umso bemerkenswerter ist es, dass nur wenige Fußballvereine in den höheren Spielklassen mit Sportpsychologen zusammenarbeiten. Gerade nach dem Tod von Robert Enke und den Ereignissen um Markus Miller, Ralf Rangnick und Babak Rafati ist der Sportpsychologe doch eine gute Stütze im Profisport.

Graw: Das hat einfach viel damit zu tun, wer bei dem jeweiligen Verein in der Verantwortung ist. An erster Stelle dann natürlich der Trainer, der für die Psychologie offen sein muss. Man muss ganz klar sagen, dass viele Trainer glauben, ich brauche keinen Sportpsychologen in meinem Trainerteam. Warum sie das glauben, muss man sie selbst fragen. Aber ein Grund, warum sie darauf verzichten, ist wahrscheinlich der Gedanken, ‚ich kann das selbst‘. Viele Trainer behaupten, gute Motivationen zu sein, zu wissen, wie das Geschäft läuft und sich auszukennen, wie man Spieler anzupacken hat.

Dabei gibt es einen großen Unterschied zwischen Motivation und Psychologie.

Graw: Ja, selbstverständlich. Psychologie hat auch was mit Konzentration zu tun, mit Aufmerksamkeit, mit Selbstvertrauen. Motivation hat was damit zu tun, wie man Niederlagen oder persönliche Rückschläge verarbeitet. Allein das sind schon verschiedene Facetten. Zudem wird Motivation heutzutage häufig damit abgestempelt, dass Spieler nur ‚heiß‘ auf dem Platz sein müssen. Aber Motivation ist wesentlich mehr. Die Psychologie ist komplex und es spielt sich viel auf der unterbewussten Ebene ab, die man als Laie nicht unbedingt gut erkennen kann.

Profi-sein wird zum Projekt für Nachwuchsspieler

Gerade bei jungen Spielern wären Sportpsychologen sicherlich hiflreich. Häufig fallen Nachwuchsspieler nach einer tollen Saison auch in ein „Loch“, was die Leistung angeht.

Graw: Das kann viele Gründe haben: Ein junger Spieler bekommt während seiner B- oder A-Jugendzeit häufig vermittelt, ‚Du hast das Zeug dazu, Profi zu werden‘ und ‚Du könntest Bundesliga spielen‘. Dieses Feedback, diese Rückmeldung schafft Selbstvertrauen. Es wird zum eigenen Ziel, zum eigenen Anspruch, zum eigenen Projekt. Kommt dann der Profivertrag und der erste Einsatz, vielleicht sogar noch mit einer guten Leistung, ist das Ziel erreicht. Es kann sich dann eine Leere breit machen. Ein Antrieb fehlt. Der junge Spieler ist dann sicherlich noch nicht satt, aber er muss sich schnell neue Ziele stecken. Zum Beispiel, Stammspieler zu werden und diesen Status zu bestätigen. Ein größeres Ziel kann es zum Beispiel sein, zu einem Verein wechseln zu wollen, der international spielt oder um Titel spielt. On top wäre dann die Nationalmannschaft. Jogi Löw ist übrigens ein Trainer, der glaubt, Erfolg über solche Ziele steuern zu können.

Ist das gut oder schlecht aus psychologischer Sicht?

Graw: Man muss damit vorsichtig sein, denn Ziele können auch in Gefahr geraten, wenn ein, zwei Dinge passieren, auf die man keinen Einfluss hat. Was ist zum Beispiel, wenn sich die Leistungsträger vor der Europameisterschaft verletzen? So etwas könnte zur Resignation führen – muss aber natürlich nicht so sein.