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Joachim Stamp: Rudert er bei umstrittener Entscheidung zurück? „Bereit zu sprechen“

Joachim Stamp: Rudert er bei umstrittener Entscheidung zurück? „Bereit zu sprechen“

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Joachim Stamp: Rudert er bei umstrittener Entscheidung zurück? „Bereit zu sprechen“

Joachim Stamp: Rudert er bei umstrittener Entscheidung zurück? „Bereit zu sprechen“

Landtag NRW: Hier werden die Entscheidungen getroffen

In Düsseldorf liegt das politische Machtzentrum von Nordrhein-Westfalen. Doch seit wann ist das so und wie viele Politiker sitzen eigentlich im Landtag.

Joachim Stamp (FDP) hat eine herausfordernde Legislaturperiode hinter sich. In seiner Amtszeit musste der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration und stellvertretende Ministerpräsident von NRW zuerst die Pandemie und dann noch den Beginn der Ukraine-Krise bewältigen.

Nun kämpft Joachim Stamp vor der NRW-Wahl um die Gunst der Wählerstimmen.

Im ersten Teil des Interviews mit DER WESTEN spricht der Chef der NRW-FDP über die Herausforderung der Integration tausender Frauen und Kinder aus der Ukraine, über den Fachkräftemangel in NRW und signalisiert Gesprächsbereitschaft bei einer sehr umstrittenen Regierungsentscheidung von CDU und FDP.

Herr Stamp, wie alle Länder hat NRW in den zurückliegenden Wochen zehntausende Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Was sind aus Ihrer Sicht jetzt die wichtigsten Schritte?

Joachim Stamp: Zunächst einmal bin ich den Kommunen und vor allem auch den Ehrenamtlichen vor Ort unglaublich dankbar, dass es gelungen ist, innerhalb von neun Wochen über 130.000 Menschen hier in Nordrhein-Westfalen unterzubringen und ihnen Schutz zu bieten vor dem Bombenterror von Wladimir Putin. Die große Schwierigkeit, die jetzt vor uns liegt, ist, dass niemand weiß, wie der Krieg weitergeht. Wir erleben bei den Ukrainerinnen, es sind vor allem Frauen und ihre Kinder, dass sie nahezu alle wieder zurückmöchten, weil sie zu ihren Familien, ihren Ehemännern, Eltern und Geschwistern zurückwollen. Und gleichzeitig kann es sein, dass sie länger bleiben müssen und deswegen ist es unser ganz klares Signal, dass sie uns auch dauerhaft hier willkommen sind. Weil aber keiner weiß, wie lange es geht, müssen wir sehr viel improvisieren.

Wie kann das Land NRW den Betroffenen in dieser unsicheren Lage konkret helfen?

Wir steuern die Unterbringung durch den Krisenstab meines Ministeriums und machen vielfältige Integrationsangebote. Wir wollen nicht, dass man irgendwann feststellt, dass man sehr lange bleiben muss und eine lange Zeit unnötig versäumt hat. Wir haben jetzt die Regelung, dass für die Ukrainerinnen und Ukrainer ab dem 1. Juni das SGB (Anm. d. Red.: Sozialgesetzbuch – gemeint sind Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, u.a. Anspruch auf Arbeitslosengeld) gilt und es hier dann auch zu einer intensiven Arbeitsmarktberatung und -vermittlung kommen wird. Wir machen Angebote für die Kindertagesbetreuung. Das heißt, wir haben den Kitas zugesichert, dass unabhängig von Stichtagsregelungen Kinder aufgenommen werden können und wir das als Land bezahlen. Wir machen aber vor allem niedrigschwellige Angebote, wo die Eltern mit einbezogen werden. Wir haben sehr viele informelle Betreuungsangebote in den Kirchengemeinden, auch Synagogen und Moscheegemeinden beteiligen sich aktiv.

Bei Schulen gibt es die Unterscheidung zwischen denjenigen, die sich so stark fühlen, dass sie in den Regelunterricht gehen möchten. Und dann gibt es Kinder und Jugendliche, die nur in den Nebenfächern in den Klassen teilnehmen und ansonsten gesondert Deutsch lernen. Und manche, die überhaupt erst einmal Deutsch lernen. Aber die Betroffenen leben überwiegend auf gepackten Koffern. Deshalb müssen wir immer wieder weiter überprüfen, wie wir die Maßnahmen gestalten.

Sollten die Ukrainerinnen gezwungen sein, noch lange in Deutschland bleiben zu müssen: Wie wollen Sie kurzfristig dem Fachkräftemangel an Schulen und Kitas entgegensteuern – und auch dem Mangel an Betreuungsplätzen, der ohnehin schon an Kitas besteht?

Ja, das ist auch unabhängig von den Ukrainerinnen und Ukrainern eine große Herausforderung. Es ist ja ein bundesweites Problem. Mir geht es in den Kitas darum, dass wir hier auf der einen Seite jetzt mehr für den Beruf gewinnen durch praxisorientierte Ausbildungen. Darüber hinaus wird es nur gehen, wenn wir noch mehr Quereinstieg ermöglichen und mit vielen multifunktionalen Teams in den Einrichtungen arbeiten und den Erzieherinnen und Erziehern alles, was nicht unmittelbar erzieherische Arbeit ist abnehmen, so dass sie sich stärker auf die Kinder konzentrieren können.

Und das streben Sie auch an Schulen an?

Wir werden auch nach der Wahl mit den Bildungsgewerkschaften sehr ernste Verhandlungen darüber führen müssen, dass Quereinstieg in sämtlichen Bereichen anders möglich sein muss. Es geht nicht darum, Berufe zu entwerten oder Qualitätsstandards zu senken. Aber es geht darum, dass man im Grundschulbereich – wir sprechen ja auch über die Weiterentwicklung zum Rechtsanspruch bei der offenen Ganztagsschule – dass es uns da auch gelingt, Teamteaching-Möglichkeiten zu schaffen. Ich werbe auch dafür, dass wir die offenen Ganztagsschulen mit einem echten pädagogischen Konzept bis nachmittags bis etwa 14.30 Uhr gestalten und es dann für die Eltern die Möglichkeit gibt, betreutes Spielen anschließend dazuzubuchen.

Und aus welchen Bereichen sollen die Quereinsteiger konkret kommen?

Wir wünschen uns zum einen eine viel schnellere Anerkennung von Abschlüssen. Das gilt nicht nur für die Ukrainerinnen und Ukrainer. Wir haben ja einen riesigen Fachkräftemangel in nahezu allen Branchen. Kita, Grundschule, aber auch in der Pflege, im Handwerk und in der Gastronomie. Es fehlen zum Teil einfache Arbeitskräfte.

Wir schlagen als FDP zwei Dinge vor: Zum einen wollen wir die berufliche Bildung massiv aufwerten. Wir wollen, dass man auch mit einem mittleren Bildungsabschluss wieder eine verantwortungsvolle Tätigkeit in unserer Gesellschaft ausüben kann. Für uns ist es wichtig, dass wir Bildungsaufstiege schaffen auch für Kinder aus bildungsschwächeren Familien, wo es vielleicht nicht die nötige Förderung gibt. Dazu haben wir Talentschulen eingerichtet in besonders schwierigen Stadtteilen. Die wollen wir jetzt von 60 auf 1.000 erhöhen.

Und wir wollen darüber hinaus das erfolgreiche Modell der Talentscouts aus dem Ruhrgebiet ausweiten, bei dem junge Menschen Schülerinnen und Schüler beraten, an die Hand nehmen, coachen und einfach versuchen zu entwickeln, dass man das Leben nicht verdaddelt, sondern etwas aus seinen unterschiedlichen Fähigkeiten macht. Das wollen wir landesweit etablieren.

Der zweite Schritt: Wir müssen aus dem Migrationsprogramm der neuen Bundesregierung zwei Punkte vorziehen. Das eine ist eine veränderte Blue-Card-Regelung, damit man mit einem regulären, branchenüblichen Arbeitsvertrag mit einem deutschen Unternehmen, regulär in den deutschen Arbeitsmarkt einreisen darf. Dann können wir in den Herkunftsländern Jobbörsen machen und ganz gezielt Arbeitskräfte anwerben. Und wir müssen für die Menschen, die hier mit einem Duldungsstatus leben, aber arbeiten wollen, sämtliche Arbeitsverbote aufheben.

Aber nicht jeder Handwerker kann Meister werden. Und Angestellte in Handwerksberufen gelten nicht als überbezahlt. Wie wollen Sie junge Menschen für Ausbildungsberufe begeistern, wenn ihnen im Alter nur eine bescheidene Rente winkt?

Sie können als guter Handwerker heute deutlich besser verdienen als ein mittelmäßiger oder unterdurchschnittlicher Anwalt. Von daher ist es ganz wichtig, dass wir ganz anders für diese Berufsfelder werben, und auch gesellschaftlich zeigen, dass es wertvoll ist. Wir haben in der Regierung zum Beispiel umgesetzt, dass Realschülerinnen und Realschüler wieder einen Pfad in die NRW-Polizei haben. Das haben wir als FDP dem Innenminister Herbert Reul abringen müssen. Wir wollen jetzt die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung nach dem Vorbild der Schweiz auch in unserer Verfassung verankern. Dann sollen auch mehr finanzielle Mittel etwa in Berufsausbildungsstätten fließen, um Ausbildungen aufzuwerten.

Zusätzlich zur großen Aufgabe der Aufnahme zahlreicher Geflüchteter in kurzer Zeit hat der Ukraine-Krieg Deutschland auch in der Energiepolitik den Spiegel vorgehalten. Welchen Teil muss NRW dazu beitragen, dass man sich unabhängig von russischem Gas und Öl macht?

Die Herausforderung der Dekarbonisierung ist ja sowieso schon eine historische. Und jetzt kommt hinzu, dass wir uns lösen wollen vom russischen Gas. Wir müssen jetzt den ganzen Prozess hin zu den Erneuerbaren noch weiter beschleunigen. Als FDP machen wir für den klimaneutralen Umbau der Industrie und der energieintensiven sowie der kleinen und mittleren Unternehmen in NRW einen konkreten Vorschlag: Für eine Partnerschaft von privater und öffentlicher Hand im Sinne einer gemeinsamen Transformationspartnerschaft. Dazu wollen wir bis zu einem Drittel des vom Bund geplanten Sondervermögens von 60 Milliarden Euro nach NRW holen, gerade weil wir ein Drittel der energieintensiven Betriebe hier haben. Dazu wären wir als FDP bereit, bis zu zehn Milliarden Euro in den nächsten Haushaltsjahren aus NRW dafür umzuplanen. Mit privatem Investment könnten wir auf mehr als 75 Milliarden Euro kommen, die dann einen Rahmen dafür bieten können, um den notwendigen Umbau schneller und erfolgreich hinzubekommen. Wir müssen jetzt sehen, dass wir NRW zum Technologieführer machen.

NRW will die Stromproduktion aus Windkraft von 2020 bis 2030 verdoppeln. Das Landesamt für Umwelt, Natur und Verbraucher zweifelt allerdings daran, dass dieses Ziel erreicht werden kann bei den aktuellen Bedingungen. Wie verteidigen Sie dennoch die Aufrechterhaltung der 1.000-Meter-Regel zwischen Windenergieanlage und Wohnbebauung, die Sie gemeinsam mit der CDU bestimmt haben?

Bei der 1.000-Meter-Regelung ist es jetzt schon möglich, im Einvernehmen der Beteiligten vor Ort auf 700 Meter runterzugehen. Zudem, wenn das Baugesetzbuch entrümpelt wird und Genehmigungs- und Planungsverfahren bald hoffentlich halbiert werden, sind wir bereit über alle Regelungen zu sprechen. Wir müssen jedoch sehen, dass wir dabei die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger behalten.

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Sie sind also bereit, die 1.000-Meter-Regel rückgängig zu machen?

Das ist eine Frage, wie der Bund die Sonderregelung für die Länder lässt. Es geht nicht, dass sich das grünregierte Baden-Württemberg mit zig Sonderregelungen vor dem Ausbau drückt und wir das in NRW mit veränderten Abstandsregelungen leisten sollen. Es muss ein gemeinsames Verständnis geben. Und wir stehen beim Ausbau erneuerbaren Energien unter den Top 3 der Länder. Wenn insgesamt die Notwendigkeit besteht und wir bei den Planungsverfahren vorankommen wollen, dann müssen wir in diesem Bereich weitere Flexibilisierungen vornehmen.

Ich bin auch dafür an der Atomkraft als Übergangstechnologie festzuhalten. An dem Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030 sollten wir festhalten.

++ Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews mit Joachim Stamp ++