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Eine Homepage wird zur Heimatseite

Wie Facebook eine neue Heimat schafft

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Foto: Hermsen
Vor allem Menschen aus kleineren Städten tun sich via Facebook zu großen Gruppen zusammen. Gemeinsam suchen sie das Verbindende der alten Heimat und sagen: „Du bist Emmericher, wenn…“

Emmerich. 

Heimat – das ist für mich ein virtueller Ort, eher Sehnsucht als Stätte, eher Gefühl als Geografie. Und mich wundert es nicht, dass meine Heimat nun einen Ort findet, wo für Raum und Zeit andere Gesetze gelten. Im Internet nämlich. Meine Heimat ist im Internet wieder aufgetaucht. Ich bin einer von knapp 3000 Menschen in der Gruppe „Du bist Emmericher, wenn…“ Solche Gruppen entstehen seit kurzem im sozialen Netzwerk „Facebook“ zu Dutzenden. Der Internet-Gemeinde hatte man bislang Geschichts- und Ortlosigkeit unterstellt. Doch das ist ein Irrtum.

Menschen, meist zwischen Mitte 20 und Mitte 50, schreiben an diese virtuelle Pinnwand, was ihnen an Emmerich in Erinnerung blieb, was stört, ärgert, freut, zu Tränen rührt – und was sie vermissen. Unter diesen 3000 sind jene, die gern das Stadtwappen mit dem Eimer hochhalten und wegfeudeln wollen, was am glänzenden Selbstbild kratzt. Aber auch die, die Heimat kritisch sehen, nicht jede Entwicklung bejubeln, nicht jeden Verlust achselzuckend zur Kenntnis nehmen.

In der Internet-Gemeinde erfahren Neubürger, wo die Mauertafel daran erinnert, dass in Emmerich einst eine Synagoge stand. Sie lernen, dass der Künstler Waldemar Kuhn nicht nur das Schrottkreuz in der Heilig-Geist-Kirche gestaltet hat, sondern auch den Grundstein für die Rheinbrücke. Vor allem aber: sie reden miteinander, kommentieren alte Fotos und neue Entwicklungen – und belassen es nicht dabei. Aus Geschichtsbetrachtung wird Gegenwarts-Gestaltung. Aus der virtuellen Gemeinschaft ist eine Gruppe entstanden, die „Stadtstreicher“. Sie wollen mit frischer Farbe und frischen Ideen dafür sorgen will, dass Emmerich schöner wird

Doch es melden sich auch, denen die reale Stadt im Hier und Jetzt immer fremder wird. Menschen, die merken, was fehlt, wenn sie nach Monaten oder Jahren hinkommen.

Jene, die das Stadtwappenmit dem Eimer hochhalten

Da mag Mike, der Wirt der Pinte am Knochenpark, noch so ein makelloses Gedächtnis haben und sich nach Jahr und Tag noch an den Vornamen erinnern. Da mag die Rheinpromenade aufgemöbelt sein, aber die Kneipe „Onder de Poort“ mit der stets miesgelaunten Wirtin ist weg. Und aus Wemmers, wo morgens die Schulschwänzer Billard spielten und abends der NRZ-Redakteur am Tresen saß, ist ein feines Speiselokal geworden.

Wir Weggezogenen spüren: Heimat ist flüchtig — wie Geschmack und Geruch. Und genau daran ist sie geknüpft. An den ranzigen Gestank der einstigen Ölwerke Germania und den Jaucheduft, den der Westwind von Kleve herüberwehte. (Ja, ich weiß, Emmerich kann auch nach Katjes-Lakritz oder nach frischem Kaffee duften, wenn die Firma Probat Röstmaschinen testet.)

Deswegen geht Heimatliebe so oft durch den Magen, schmeckt nach „Ma-Mi-Nu“-Lohmannschokolade („Für alle, die Mandel-Milch-Nuss-Geschmack lieben, aber nicht auf Kerne beißen möchten“) und den aus Kartoffelmehl gepressten Fritten, die es im ausrangierten Bus am Hafen gab. Von den Moccabohnen bei Süßwaren Tibus und Schnuppkram vom Rewe am Bremer Weg gab, wo der Inhaber die Kinder stets mit dem sinnfreien Spruch „Lass knacken, Ernie, die Nacht ist so kühl“, verabschiedete.

„Wenn ich hier lese, denke ich jedes Mal: Ach, das gibt es nicht mehr?“

Im Internet stehen jetzt die Geschichten von Fußballturnieren in der Fulkskuhle, einem Sportplatz auf dem heute Einfamilienhäuser stehen. Und von Arno Jansen, dem gefürchteten Mitarbeiter des Ordnungsamtes, der nachts in in der Bhagwan-Disco Ausweise kontrollierte. Oder von Mölli Breuer, die Emmerichs letztes Ernst zu nehmendes Modegeschäft betrieb und für Aufsehen sorgte, als sie dunkelhäutige afrikanische Asylbewerber als Models auf den Laufsteg schickte. Sie hat den Rhein gegen den Pazifik getauscht und lebt in Kalifornien. Aber sie schreibt mit an dieser neuen Form der Heimatgeschichte. Wie Christoph Heitmann, einer von jenen, die einst mit der Kleinstadt gerungen haben, weil sie zu eng schien für größere Träume. Heute lebt er in Köln und staunt: „Wenn ich hier mitlese, denke ich jedes Mal: Ach, das gibt es nicht mehr?“

Eine Homepage wird zur Heimatseite

Ihm geht es wie vielen, die nach Abitur oder Lehre in alle Winde verstreut wurden. Wir behalten die erste Stadt, die wir auf kurzen Beinen und Kinderfahrrädern eroberten in unserem Gedächtnis wie unsere erste Liebe. Wir wissen: Wir haben Emmerich verlassen, aber Emmerich verlässt uns niemals so ganz.

Aus vielen tausend Blickwinkeln schauen wir auf jene verlorene Stadt der Kindertage, eine einigermaßen durchschnittliche Provinzstadt. Aber auch das Paradies namens Erinnerung, aus dem niemand vertrieben werden will. Und wir Heimatvertriebenen schaffen uns jetzt kleinen virtuellen Paradiese. Eine Homepage wird zur Heimatseite.