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Ein Leben ganz ohne Eltern

Ein Leben ganz ohne Eltern

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Foto: FW Bad Lobenstein
Durch einen Verkehrsunfall werden die neun Kinder von André und Heike Kipsch plötzlich zu Waisen. Die Kinder versuchen seit dem in die Normalität zurückzukehren. Die Gemeinde hilft, wo sie nur kann, aber der seelische Ballast wiegt schwer.

Pottiga. 

Die Normalität, so wie sie die neun Kinder von André und Heike Kipsch kannten, kehrt wohl nie wieder zurück. Denn ihre Eltern sind tot, gestorben bei einem tragischen Verkehrsunfall im vergangenen Jahr, kurz vor Weihnachten. Mittlerweile haben sich die neun Waisen aus dem kleinen thüringischen Ort Pottiga im Kreis Saale-Orla einen neuen Lebensablauf aufgebaut oder besser gesagt, sie versuchen es. „Die seelische Belastung ist für die Kinder immer noch sehr hoch“, sagt Pottigas Bürgermeister Wolfgang Sell.

Die Geschichte der Kipsch-Kinder, die mit einem Schlag zu Waisen wurden, sorgte überall für Aufsehen. Es war dunkel und nass, als die Eltern gemeinsam mit sechs ihrer Schützlinge am 29. November, einem Freitagabend, auf einer Landstraße unterwegs waren. Der Transporter eines Paket-Dienstes kam ihnen entgegen, geriet auf die Gegenfahrbahn und knallte mit voller Wucht frontal auf den Ford der Familie. Die Auto-Front wurde komplett zerstört, der Transporter kippte von der Straße auf ein Feld. André (47) und Heike (42) Kipsch starben noch an der Unfallstelle, die Kinder sowie der Kurierfahrer überlebten, zum Teil schwer verletzt.

Von nun an ist nichts mehr wie vorher, und wird es auch nicht mehr: Die Kinder, der Jüngste vier und die Älteste 29 Jahre alt, müssen fortan für sich selber sorgen. Unterstützung bekommen sie von ihrer Tante, die mit ihrem Sohn ebenfalls im Haus wohnt, sowie von der gesamten Gemeinde. Der Bürgermeister, Wolfgang Sell, kümmert sich um die Angehörigen und trifft sich täglich mit ihnen. Er spricht für die acht leiblichen und das eine Pflegekind der verstorbenen Kipsch, wenn die Außenwelt Fragen hat. Von der Öffentlichkeit möchte er sie fern halten, das Leid fordert genug Aufmerksamkeit.

Jeder Cent geht an die Kinder

Sell stellt schließlich eine Arbeitsgemeinschaft zusammen und richtet ein Spendenkonto, ein sogenanntes Verwahrkonto für die Familie ein. Jeder Cent, der eingeht, geht an die Kinder, versichert der Bürgermeister. „Hier bei uns stehen die Leute zusammen, in guten wie in schlechten Zeiten“, sagte er damals. Und er behält recht. Die Hinterbliebenen erfahren eine Welle der Solidarität, „und die hält bis heute an“, so der Bürgermeister. Menschen aus Pottiga und Nachbarorten spenden großzügig. Wie viel Geld die Gemeinde bereits zusammen hat, möchte Sell nicht sagen, „um Neid und Missgunst abzufangen“, wie er erklärt. Anfang Dezember waren es schon 12 000 Euro.

Zum Glück, denn die Familie braucht das Geld. Dringend. Das Haus, in dem zehn Menschen leben, ist sanierungsbedürftig. Fenster, die Elektrik und das Dach müssen erneuert werden. Als Heizung dienen bis jetzt nur die Öfen in den Zimmern.

Heute beginnen die Planungen für die Haussanierung, kündigt Sell an. Dann tagt wieder die „Arbeitsgemeinschaft Familie Kipsch“. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern um Bürokratie, Dinge, die für die Kinder selbstverständlich schienen, als ihre Eltern sie noch erledigt haben. Rechtliche Dinge wie zum Beispiel das Erbe und Versicherungen müssen geklärt werden, Wolfgang Sell und seine Gemeinde kümmern sich darum.

Und die Familie? „Sie halten zusammen.“ Der Größte der drei kleineren Kinder, der sechsjährige Christoph, kommt bald in die Schule, vor ein paar Tagen hat er das erste Mal seit dem Unfall eine Nacht durchgeschlafen. Doch die Kleinen brauchen weiterhin viel Zuneigung, wollen in den Arm genommen oder gedrückt werden. „Sie verstehen einfach nicht, dass Mama und Papa nicht mehr wieder kommen.“

Kurierfahrer meldete sich nicht

Der Unfallfahrer wurde wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Wie es zu der Kollision kam, ist noch unklar, der Fahrer war weder betrunken, noch stand er unter Drogen. Die Ermittlungen laufen weiter. Bisher hat sich der Unfallverursacher noch nicht geäußert, ist laut Sell auch nicht auf die Familie zugegangen, aber der Bürgermeister kann es verstehen. „Mit dem Unfall ist er für sein Leben schon genug bestraft.“

Bereit für Vergebung sei die Familie noch nicht, in einigen Familienmitgliedern brodele der Hass allein schon bei dem Namen des Paket-Dienstes. Doch vergeben ist wichtig, sagt Sell und das wolle er auch anstreben. Bald, wenn der Schmerz nicht mehr ganz so schlimm ist, die Wunden anfangen zu heilen, wenn auch nie so ganz.

(NRZ/OTZ/TA/TLZ)