Wann es vernünftig ist, einen Menschen für tot zu erklären
Der Deutsche Ethikrat streitet darüber, ob hirntote Patienten bei der Entnahme von Organen noch leben. Der Essener Transplantationsmediziner Prof. Eckhard Nagel kritisiert diese Position.
Essen.
Wann ist ein Mensch wirklich tot? Eine zweifelsfreie Antwort darauf ist die Voraussetzung dafür, einem Menschen Organe entnehmen zu dürfen. Der Deutsche Ethikrat will mit seiner neuen Stellungnahme „Hirntod und Entscheidung zur Organspende“ das Vertrauen in die Transplantationsmedizin wieder stärken. Doch der Streit darüber, ob der Hirntod wirklich das Ende des Lebens bedeutet, dürfte die Verunsicherung der Menschen weiter befördern, meint der Transplantationsmediziner Prof. Eckhard Nagel, Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Essen und selbst Mitglied des Ethikrates.
Welche Folgen könnte die Stellungnahme des Ethikrates haben?
Prof. Nagel: Ich befürchte, dass in der öffentlichen Debatte die Kritiker des Hirntod-Konzepts am Ende im Vordergrund stehen. Dies würde Unsicherheiten verstärken und sich auf Menschen auswirken, die überlegen, ein Organ zu spenden und damit auch auf jene, die so dringend auf ein Organ warten.
Die Spendenbereitschaft könnte dadurch weiter sinken?
Nagel: Ja. Die Stellungnahme trifft in eine Phase mit der geringsten Zahl an Spenden seit 1990. Im letzten Jahr gab es nur 864 Organspender, 2008 waren es noch knapp 1200. Wir als Deutschlands größtes Lebertransplantationszentrum in Essen haben 2014 erstmals weniger als 100 Transplantationen vorgenommen, weil es nicht mehr Organe gab. Zuvor waren es noch rund 150.
Mit welchen Folgen?
Nagel: Auf einer Warteliste für Herz, Leber oder Lunge zu stehen bedeutet: Wenn ich kein Organ bekomme, dann sterbe ich. Jedes Jahr sterben mehr als 1000 Menschen, die auf der Warteliste stehen, weil es keine Hilfe für sie gab. Darunter sind auch viele junge Patienten. Diese Zahl dürfte weiter deutlich steigen.
Ist der Hirntod kein eindeutiges Todesmerkmal?
Nagel: Wir Mediziner haben klare Kriterien, wann der Tod eintritt. Aus medizinischer Sicht gibt es an der Hirntod-Definition überhaupt keine Zweifel, ihr liegen sichere und eindeutige Vorgaben zugrunde.
Warum dann die unterschiedlichen Ansichten im Ethikrat?
Nagel: In der Stellungnahme werden ganz unterschiedliche Dinge miteinander verglichen: Als Philosoph, Theologe oder auch als Jurist kann ich fragen, ob der Hirntod das Ende des Sterbeprozesses ist oder doch ein davor liegender Moment. Das sind sicher wichtige ethische und philosophische Überlegungen, die bis ins Spirituelle reichen. Doch für einen Arzt sind dies keine primär relevanten Kriterien. Hier geht es um die materielle Existenz des Menschen – und die verschiedenen Ebenen der Betrachtung zu Tod und Sterben führen den Betrachter in die Irre.
Einige Mitglieder des Rates sehen im Hirntod zwar nicht den Todeszeitpunkt, halten ihn aber für ein notwendiges Entnahmekriterium. Ist das nicht ein Widerspruch?
Nagel: Sie argumentieren, dass an diesem Punkt der Prozess des Sterbens unumkehrbar ist, der Mensch aber noch nicht tot ist – trotzdem aber eine Organentnahme zu rechtfertigen sei. Das halte ich für eine unhaltbare Position und völlig ausgeschlossen! Die Ärzteschaft müsste mit der Transplantationsmedizin sofort aufhören, wenn ein hirntoter Mensch ein sterbender Patient sein sollte. Ich wäre der erste, der aufhört, Organe zu entnehmen. Niemals würde ich einen Eingriff vornehmen, der bei einem Sterbenden den Tod herbeiführen könnte. Undenkbar!
Wie kann man das Vertrauen der Menschen in die Transplantationsmedizin zurückgewinnen?
Nagel: Wohl nicht mit solchen Stellungnahmen! Wir sollten vermitteln, dass es eine medizinische Eindeutigkeit gibt. Wir haben in den letzten Jahren sehr viel verbessert in der Transplantationsmedizin. Wir haben umfassende Transparenz hergestellt, wir haben Missstände aufgedeckt, und diese werden konsequent abgestellt. Wir hoffen, dass sich dadurch langsam wieder Vertrauen einstellt. Zudem müssen wir weiter aufklären, die Menschen mitnehmen und begleiten sowie ihnen einen würdevollen Abschied ermöglichen. Akademische Debatten über den Tod eines Menschen führen hingegen bisweilen dazu, unsere Patienten zu vergessen.