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Türkische Polizei will Spitzel-Briefkasten in jedem Stadtteil des Landes

Türkische Polizei will Spitzel-Briefkästen überall im Land

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1. Mai - Demonstration in Istanbul Foto: dpa
Die türkischen Polizeibehörden wollen Briefkästen in allen Teilen des Landes anbringen, um anonyme Anzeigen zu vereinfachen. Die Bürger sollen Verantwortung für ihre Nachbarschaft übernehmen und Kriminelle per eingeworfener Notiz anschwärzen. Kritiker befürchten eine Hexenjagd nach Regierungsgegnern wie im Dritten Reich und der DDR.

Essen/Istanbul. 

Die Zentralbehörde der türkischen Polizei plant offenbar Polizei-Briefkästen in allen Teilen des Landes aufzustellen und fordert die Bürger dazu auf, Nachbarn, Freunde und Bekannte, die Kriminelles getan haben, zu verraten. Die Bürger-Spitzel sollen dabei natürlich anonym bleiben. Mehrere türkische Medien berichteten am Dienstag über das „Mitwisser-Anzeigen-Projekt der Polizei“. Demnach erhofft sich die „Generaldirektion für Sicherheit“ durch das Briefkasten-System höhere Erfolgsaussichten in der Kriminalitätsbekämpfung und mehr Vertrauen in ihre Arbeit.

Die Gelegenheit zur anonymen Anzeige, ohne das man selbst in einem Polizeipräsidium vorstellig werden oder in einer Wache anrufen muss, werde dazu führen, dass mehr Bürger Verantwortung für ihre Nachbarschaft übernehmen, heißt es aus der Behörde. Das türkische Dezernat für öffentliche Ordnung argumentiert: „Es gibt Menschen, die Zeugen von Einbrüchen werden, sich aber nicht bei der Polizei melden, weil sie nicht selbst betroffen sind. Aber wer garantiert ihnen, dass sie nicht die nächsten sind, die ausgeraubt werden?“ Mit der anonymen Anzeige per Polizei-Briefkasten ersparten sich die Bürger außerdem den bürokratischen Ablauf, der auch von einer Anzeige abhalten könne.

Spitzel-Staat wie in der DDR

Kritiker sehen in dem Projekt den Aufbau eines Spitzel-Staates wie in Nazi-Deutschland und später in der DDR. Der türkische Rechtsanwalt Ergin Cinmen sagte der Zeitung „Habertürk“: „Was hier geplant ist, ist eine Hexenjagd und es ist illegal.“ Der Jurist glaubt, dass die Staatsmacht vielmehr versucht auf diesem Weg Regierungsgegner ausfindig zu machen, um sie zu bestrafen. „Das wäre ein historischer Fehler und würde dazu führen, dass sich Teile des türkischen Volkes feindlich gegenüber stehen“, so Cinmen.

Unterdessen hält die Kritik an Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoagn weiter an. Internationale Prominente haben dem türkischen Ministerpräsidenten in einem offenen Brief in der britischen Zeitung „The Times“ Propaganda im Nazi-Stil vorgeworfen. Der türkische EU-Minister Egemen Bagis kritisierte das Schreiben als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und als „Volksverhetzung“. Erdogan will die Unterzeichner und die Zeitung verklagen.

Sean Penn, Ben Kingsley und Susan Sarandon gegen Erdogan

Zu den Unterzeichnern gehören unter anderem Oscar-Preisträger Sean Penn, Ben Kingsley und Susan Sarandon sowie der türkische Starpianist Fazil Say. In dem bereits vergangene Woche veröffentlichten Brief verurteilen sie das harte Vorgehen gegen friedliche Demonstranten. Obwohl durch die „unbeschreiblich brutale Gewalt“ der Polizei mehrere Menschen getötet worden seien, habe Erdogan kurz nach der Räumung des Gezi-Parks Mitte Juni eine Massenkundgebung in Istanbul abgehalten, „die an den Reichsparteitag erinnerte“.

In dem Brief wird dem Ministerpräsidenten außerdem eine „diktatorische Herrschaft“ vorgeworfen. „In Ihren Gefängnissen sitzen mehr Journalisten, als in denen in China und im Iran zusammengenommen“, heißt es in dem Schreiben.

64 Journalisten in türkischen Gefängnissen

In der Türkei sitzen nach Angaben der Opposition derzeit 64 Journalisten im Gefängnis. 123 weitere Journalisten würden im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen angeklagt, wie die Republikanische Volkspartei (CHP) ermittelte. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kritisierte, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan habe die Türkei zu einem „halboffenen Gefängnis“ für Journalisten gemacht. Besitzer von Medienhäusern übten unter Druck der islamisch-konservativen Regierung massiven Einfluss auf die Berichterstattung aus.

Die türkische Journalistengewerkschaft TGS teilte mit, dass im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die seit Ende Mai andauernden Proteste gegen die Regierung 22 Journalisten entlassen wurden. 37 weitere Journalisten seien zur Kündigung gezwungen worden. Auch das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) hatte die Türkei in seinem Jahresbericht 2012 „den schlimmsten Kerkermeister der Welt“ genannt. Demnach saßen am 1. Dezember von den weltweit 232 inhaftierten Journalisten 49 in türkischen Gefängnissen.

Erdogan beschimpft Demonstranten als „erbärmliche Nagetiere“

Die inzwischen weniger intensiv geführten Proteste hatten sich Ende Mai an Plänen der Regierung entzündet, den Gezi-Park zu bebauen. Sie richteten sich dann aber vor allem gegen den autoritären Regierungsstil Erdogans. Bei den Protesten kamen mindestens fünf Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Erdogan hatte die Demonstranten zuletzt vor wenigen Tagen mit „erbärmlichen Nagetieren“ verglichen, die versuchten, Löcher in das Schiff zu nagen, das alle 76 Millionen Türken trage. (mit dpa)