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Menschen in Afghanistan haben Sehnsucht nach normalem Leben

Menschen in Afghanistan haben Sehnsucht nach normalem Leben

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Foto: Matthias Korfmann
Zwischen Terror und Gewalt erobert sich das ganz normale Leben Nischen in dem vom Krieg gezeichneten Land. Smartphones, selbstbewusste Frauen und lernende Kinder sind der Albtraum der Taliban. 2014 wird ein entscheidendes Jahr.

Kabul. 

Afghanistan steht vor großen Veränderungen: Ende 2014 werden sich 100.000 Nato-Truppen zurückziehen. Präsident Hamid Karsai möchte noch vor dem Abzug von 100.000 Soldaten den Weg für einen neuen Regierungschef und Neuwahlen freimachen. Und was passiert dann? Diese Frage bewegt alle Afghanen. Denn ihr Land hat sich seit dem Ende der Taliban-Regierung verändert. Die vergangenen Jahre haben neben Gewalt und Terror auch Aufbruchstimmung und Hoffnung hervorgebracht. Die Entwicklungshilfe für Afghanistan wirkt an vielen Stellen. Und die Sehnsucht der Menschen nach einem normalen Leben ist nach 30 Jahren Krieg riesig.

Sima Samadi aus Kabul steht für das neue Afghanistan. Sie schafft den Spagat zwischen Familie und Beruf, und sie passt so gar nicht in das Bild, das wir Europäer von afghanischen Frauen haben. Sie lebt in einer Mietwohnung, die vom Zuschnitt auch nach Hamburg oder Stuttgart passen würde: drei Zimmer, Küche, Bad. Sima trägt keinen Ganzkörperschleier, sie macht sich gern schick, bewegt sich wie jeder moderne Stadt-Mensch im Internet, und sie kümmert sich im Kabuler Büro der Welthungerhilfe (WHH) um Finanzen und Verwaltung. Seit 14 Jahren gehört Sima zum WHH-Team. Sogar unter den Taliban durfte sie – mit Sondergenehmigung – dort arbeiten.

Traum vom Land ohne Anschläge

Sima strahlt Herzlichkeit aus. Sie lacht gern, aber sie hat düstere Jahre erlebt. „Afghanistan war wie ein riesiges Gefängnis“, erinnert sie sich an die Taliban-Zeit. Sie hat gegen den religiösen Extremismus rebelliert, so gut ihr das möglich war. „Ich habe heimlich in meiner Kleidung einen Videorekorder von Pakistan nach Kabul geschmuggelt“, sagt Sima. Um mit ihrer Familie Filme zu gucken. „Ganz leise, fast ohne Ton, damit die Nachbarn nichts merken. Wir haben die Türen abgeschlossen und die Fenster zugehängt. Denn so etwas war streng verboten.“

Die Zeit, in der alles, was Spaß macht, verboten war, ist vorbei. In Kabul reift eine Mittelschicht heran, die solche staatlichen Eingriffe ins das Privatleben für lächerlich hält. Simas Tochter Tahmina (26) hat studiert, Schwiegersohn Mirwais (27) ist Banker. „Karriere und ein gutes Einkommen“ sind seine Ziele. Mirwais und Tahmina träumen von einem Land, in dem sie „ohne Angst vor Anschlägen abends essen gehen oder ins Kino gehen können“.

Verwaltungen, Botschaften, Ministerien wurden zum Schutz vor Bomben regelrecht einbetoniert. Aber dazwischen und daneben blüht Alltagsleben. Menschen gehen zur Arbeit, Kinder, auch viele Mädchen, gehen zur Schule. Es gibt öffentliche Schwimmbäder in Kabul. Familien gehen in den Zoo oder flanieren in romantischen Parks wie dem König-Barbur-Garten. Wer es sich leisten kann, der heiratet in einem der vielen neuen Hochzeits-Paläste.

Rosen statt Drogen

An der Landstraße, die Kabul mit der Grenzstadt Jalalabad und mit Pakistan verbindet, zeigt Afghanistan sein anderes Gesicht. Die Straße ist militärstrategisch wichtig. Eine Lebensader der Hauptstadt. Alle paar Kilometer verbergen sich afghanische Soldaten in ihren Stellungen hinter Sandsäcken oder hocken in Felsspalten. Weiße Steine auf Berghängen bedeuten: geräumtes Minenfeld. Beobachtungs-Drohnen schweben über Dächer und durch Täler. Die Provinz Nangarhar, durch die diese Straße führt, ist ein Kriegsschauplatz. 50 bis 100 Zwischenfälle im Monat verzeichnet die Statistik. Mal ist es ein einzelner Schuss, mal ein schweres Gefecht. Hier ist jenes Afghanistan zu sehen und zu spüren, das wir aus den Nachrichten kennen.

Umso freundlicher empfängt Dara-i-Nur seine Besucher. „Tal des Lichts“ heißt das übersetzt. Bauerndörfer wie aus dem Bilderbuch liegen in diesem tiefgrünen Tal. Auf Terrassen-Feldern sprießt der Weizen, die Erde spendet reichlich Früchte: Bohnen, Kartoffeln, Reis. Und Dar-i-Nur duftet nach Rosen. „Alle Familien bauen Rosen an“, sagt Janan Khan, der Malik (Ortsvorsteher) des Dorfes Sargalak. Die Damaszener-Rosen, die im Tal des Lichts blühen, verdrängen zumindest an diesem Ort den Mohn und damit das Opium. Ein Rosen-Projekt der Welthungerhilfe, 2004 gestartet, sichert die Existenz von inzwischen mehr als 700 Familien. Aus den Rosen-Blüten wird wertvolles Öl für die Kosmetikindustrie destilliert. Der hohe Preis für dieses Öl – 3600 Euro pro Liter auf dem Weltmarkt – macht die Rosenproduktion attraktiv. Dennoch muss erwähnt werden, dass Aghanistan in diesem Jahr laut UNO-Angaben eine Rekordernte beim Schlafmohn erwartet.

Janan Khan, der Ortsvorsteher, beobachtet „unglaubliche Veränderungen“ in dem Tal, in dem er aufwuchs. Veränderungen zum Guten. „Vor zehn Jahren war es üblich, Probleme nicht mit Worten, sondern mit Waffen zu lösen. Ich schätze, dass heute 80 Prozent der Nachbarn absolut friedlich sind. Sie haben elektrischen Strom, in den Häusern stehen Fernseher, viele besitzen ein Handy, und zwei bis drei Prozent der Menschen surfen regelmäßig im Internet.“ Für Janan Khan kommt das einer Revolution gleich. Schlechte Zeiten für die Taliban.

Fanatisierte Religionswächter würden wohl auch beim Blick in die modernen Schulen, die mithilfe der Welthungerhilfe in der Region gebaut wurden, verzweifeln. Denn erstens gehen in zahlreichen Dörfern sämtliche jüngeren Mädchen und Knaben zur Schule, und zweitens sind die Fächer konsequent entmilitarisiert worden. „Früher“, erinnert sich Schuldirektor Raschidullah, tauchten in den Büchern Waffen auf. Da sollten die Kinder im Mathe-Unterricht Messer zählen und ähnlichen Unsinn manchen. Das gibt es nicht mehr“, versichert der Rektor. Aber: Noch immer fehlen in den ländlichen Regionen Lehrkräfte, vor allem Lehrerinnen. Die Zahl der Uni-Absolventen ist zu niedrig, um der überall steigenden Nachfrage nach Bildung begegnen zu können.

Was wird 2014 in diesem Land geschehen? Eine Frage, die alle hier jeden Tag bewegt: Städter und Bauern, Lehrer und Schafzüchter, Beamte und Händler. Jeder rechnet damit, dass die Extremisten mit vielen Nadelstichen auf den Abzug der Isaf-Truppen reagieren werden. Jeder fürchtet, dass die großen Nachbarn – Pakistan und Iran – kein Interesse an einem stabilen Afghanistan haben werden. Ist Afghanistan auf diese Herausforderungen vorbereitet?

„2014 kommt der Krieg zurück“

Mohammad Akbar Mohmand ist da sehr skeptisch. Viele Afghanen dürften sich in dem wiedererkennen, was der Manager der Rosenöl-Destillerie in Jalalabad sagt: „Das Problem an diesem Staat ist, dass er nicht funktioniert“, wettert Mohmand. „Es gibt zu viel Korruption, wie leben im Zustand der Anarchie. Und ich fürchte, die Situation im nächsten Jahr wird noch gefährlicher sein als die im Jahr 1992, als das Nadschibullah-Regime gestürzt wurde.“ Mohmand träumt von einem starken Mann, der Ordnung ins staatliche Chaos bringt. „Wir brauchen einen Atatürk“, sagt er, „einen echten Staatsgründer.“ Eine Einschätzung, die weit verbreitet ist, und die in westlichen Ohren befremdlich klingt: Erst Ordnung, dann Demokratie. Nicht umgekehrt.

Angst vor der Zukunft haben insbesondere die Bewohner der „wilden“ Flüchtlingscamps in der Hauptstadt. 28 000 Menschen leben in diesen Siedlungen. Sie sind aus Pakistan zurückgekommen, sie haben Provinzgrenzen überquert, und sie haben jeden Besitz hinter sich gelassen. Nach 30 Jahren Gewalt und Krieg neigen sie nicht mehr zum Optimismus. Einer der Lager-Vorsteher, der 40-jährige Ali Janat Gul, sieht schwarz: „2014 kommt der Krieg zurück. Die Taliban werden Kabul im Sturm nehmen wollen.“

Sima Samadi glaubt indes nicht an die Rückkehr der Taliban. Sie freut sich darüber, dass sie Filme gucken und im Internet blättern kann, wenn sie will, und dass sie keine staatliche Autorität um Erlaubnis bitten muss, um arbeiten zu können. Sima steht für jenen Teil der afghanischen Gesellschaft, der nach vorne guckt. Sie will keine Rolle rückwärts.