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Massaker am Rande Europas – vor 40 Jahren erlebte Nordirland seinen „Bloody Sunday“

Vor 40 Jahren erlebte Nordirland seinen „Bloody Sunday“

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Foto: ddp images/AP/Michel Laurent
In den Straßen von Londonderry machten am 30. Januar 1972 britische Fallschirmjäger Jagd auf katholische Demonstranten. 14 Menschen starben, auch Minderjährige wurden gezielt erschossen. Ein Rückblick auf das kaum vorstellbare Massaker am Rande Europas.

Essen. 

Januar 1972: Deutschland beschließt den Radikalenerlass, Joe Frazier boxt, der erste Taschenrechner kommt auf den Markt. Und am äußersten Rande Europas geschieht etwas Unvorstellbares: ein Massaker, verübt von Soldaten Ihrer Majestät an den eigenen Bürgern.

Bloody Sunday. Der Blutsonntag im Städtchen Derry (wie die Katholiken sagen) oder Londonderry (wie die Protestanten sagen) jährt sich am Montag zum 40. Mal. Heute ist dieser 30. Januar 1972 noch vielen ein Begriff als der Tag, an dem der Nordirlandkonflikt so fürchterlich eskalierte. Es begann mit einem Protestzug katholischer Bürgerrechtler durch die heruntergekommenen Straßen ihres Viertels Bogside. Doch in was für grausigen Jagdszenen sich das Ganze auflöste, wer weiß das heute noch?

Das weiße Taschentuch nützte nichts

Michael McDaid war 20, die Soldaten stellten ihn an einer Barrikade aus Bauschutt. Einer schoss ihm mitten ins Gesicht. Kevin McElhinney war 17 Jahre alt. Er versuchte von der Rossville Road, auf der die Fallschirmjäger heranstürmten, hinter einen Wohnblock in Sicherheit zu kriechen. Er wurde von hinten erschossen. Nur wenige Meter weiter traf es Bernard McGuigan. Der 41-Jährige wollte einem Verwundeten helfen und schwenkte ein weißes Taschentuch. McGuigan wurde von hinten in den Kopf geschossen. 14 Menschen starben so oder ähnlich, 14 weitere wurden verletzt.

Die britische Regierung hat diese Vorgänge lange vertuscht und dann minuziös aufgeklärt. Zwölf Jahre dauerte die Untersuchung, deren Ergebnisse der britische Premier David Cameron schließlich im Sommer 2010 veröffentlichte. Er verband es mit der Bitte um Verzeihung und räumte auch mit dem lange gepflegten Mythos auf, die Demonstranten hätten mit Nagelbomben das Feuer eröffnet. Klar, Steine sind geflogen, man sieht es auf alten Fotos. Aber, so stellte Cameron fest, „keines der Opfer war eine Gefahr für die Soldaten“.

Der Protestmarsch der Katholiken von Derry, er war eine Reaktion darauf, dass die britische Regierung in Nordirland die Daumenschrauben anzog. Immer mehr Kämpfer der Untergrundarmee IRA wurden verhaftet, zugleich waren die Katholiken benachteiligt bei Jobsuche und Sozialleistungen. Die Ereignisse des Blutsonntags befeuerten die Gewalt. Die IRA bekam nun starken Zulauf für ihren Kampf gegen britische Polizisten, Soldaten und Zivilisten. Etwa 4000 Menschen starben bis heute in dem Konflikt. Erst seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 schweigen die Waffen. Heute versuchen Politiker den alten Streit zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Republikanern und Loyalisten auszutragen, und London schickt immer neue Friedenssignale. Im September vergangenen Jahres kündigte die Regierung Cameron eine Entschädigung für die Opferfamilien des Blutsonntages an.

Sechs der Opferwaren Minderjährige

Vierzig Jahre können vieles ändern – vierzig Jahre können gar nichts ändern. John Kelly, heute 62, verlor am Blutsonntag seinen jüngeren Bruder Michael. Er war einer der sechs getöteten Minderjährigen. John hob ihn noch lebend in einen Krankenwagen, begleitete seine Eltern auf dem Gang ins Krankenhaus. John Kelly sagt heute: „Mein Vater, die Wand im Krankenhaus, an der er zusammenbrach – an all das erinnere ich mich, als wäre es gestern erst gewesen.“