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Holger Ries ist einer der letzten Malocher im Revier

Der Mann mit dem 41er-Schlüssel

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Foto: WAZ FotoPool
Holger Ries arbeitet seit fast drei Jahrzehnten im Duisburger Thyssen-Krupp-Stahlwerk. Ohne sein „cooles“ Team würde der „Schwarze Riese“ ersticken. Er ist wie fast alle seine Kollegen Mitte 40. Jüngere kommen kaum nach.

Duisburg. 

Es geht nicht anders: Man muss diesen Holger Ries (44) mögen. Typen wie er sind heute so selten wie Telefone mit Wähl­scheibe. Denn Ries ist kein Büromensch. Ries klagt nicht über ­Zugluft, schwafelt nicht in Konferenzen, eine kaputte Kaffeemaschine macht ihn nicht nervös. Holger Ries arbeitet. Gerne und hart.

Der Essener ist einer der letzten Malocher im Revier.

Helm, Lampe, Schlüssel, Arbeitsanzug. So steht er da, der Holger Ries. In diesem Moment und vor dieser Maschine ein Kerl wie aus einem Adolf-Winkelmann-Film. Offen, kernig, geradeheraus.

Der Schlüssel in Ries’ Hand ist ­keiner zum Türaufschließen, sondern einer für Riesenschrauben. Es ist, so scheint es, der größte Schlüssel aller Zeiten: ein 41-er. Wenn der mal runterfällt, macht es „Klonk“.

„Ich sach’ ma so“

„Wir sind hier zuständig für die ­Kälte“, erklärt Ries. „Wir“, das ist ein Team aus sechs Männern. Das coolste Team weit und breit sozu­sagen. Zuständig in Kältefragen für das ganze Stahlwerk von ThyssenKrupp in Duisburg. „Wir warten und reparieren Kältemaschinen und alles, was dazu gehört.“

Ist das wichtig? Ries lacht gar nicht kühl und meint: „Ich sach’ ma so: Von der Kühlung hängt so ziemlich ­alles ab: Klimaanlagen, sämtliche Maschinen, sogar die Computer.“ Und er zeigt in die weite, surreal anmutende Landschaft aus Rohren, Türmen und Hallen. Alles zischt, dampft, rattert. Ein Werk wie ein ­lebendes Wesen. „Ich bin auf dem Gelände schon mal in einer Frühschicht 150 Kilometer mit dem Auto gefahren.“ Das Werk ist eine Art Stadt in der Stadt. Arbeitsplatz für 19 000 Menschen, so viele wie in Meinerzhagen wohnen.

Industriearbeit ist auf dem Rückzug

Dabei ist die Stahlindustrie im Revier dramatisch geschrumpft: Seit 1970 verlor die Branche drei Viertel der Beschäftigten. Deshalb ist schwer zu sagen, wie viele „echte“ Industriearbeiter es heute im Ruhrgebiet noch gibt. Der „Arbeiter“ hat keine eigene Rubrik in den Statistiken der Bundesagentur.

Einige Zahlen gibt es aber: 1961 arbeiteten im Ruhrgebiet 61,3 Prozent der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe, viele in der Schwerindustrie und im Bergbau. 36,3 Prozent der Beschäftigten waren „Dienstleister“ – in der Verwaltung, im Handel, im Gesundheitswesen. Heute ist es genau umgekehrt. Allein in Dortmund sind 46 000 Menschen als „Dienstleister“ beschäftigt, nur noch 38 000 Menschen arbeiten in Fertigungsberufen.

Das Team ist seine Lebensversicherung

Holger Ries schraubt mit dem 41-er Schlüssel an der Kälte­maschine „604.2“ herum. Die ist so laut wie eine Flugzeugturbine und sieht auch so aus. Ries leuchtet in die Dunkelheit, er scheppert mit einem Kettenzug: Maloche hat ihre eigenen Geräusche.

Nichts hier drin ist für Holger Ries so wichtig wie sein Team. Sie ist seine Lebensversicherung. Seit 28 Jahren. Ries zeigt ein Foto­album: Bilder vom Maschinen zerlegen, vom Löten und Schweißen; Bilder von den Kollegen. Reifere Männer zwischen 45 und 60. „Man spürt den Wandel. Es kommen nur wenige Jüngere nach“, sagt Ries.

Nur der Charakter zählt

Noch etwas ist ihm wichtig: Wo hart gearbeitet wird, zählt die Herkunft nicht, nur der Charakter. „Zwei Türken, ein Italiener, ein Grieche sind im Team. Wichtig ist nur, dass wir uns aufeinander verlassen können. Ich verbringe mit den Kumpeln mehr Zeit als mit meiner Familie“, so Ries.

Wahr ist aber auch: Die Gemeinschaft endet am Werkstor. Sie trifft sich selten zum Grillen und zum Plaudern. Arbeiter-Siedlungen vor der Fabrik sind was für alte Bildbände. „Die Kollegen kommen von überall her. Niederrhein, Mülheim, Dortmund. Und dorthin verschwinden sie nach der Schicht.“

Die Arbeit ist nicht alles

Arbeit ist nicht alles im Leben des Holger Ries. Er spielt Schlagzeug, zieht musizierend durchs Land, er hat T-Shirts für die Kulturhauptstadt entworfen. Und er ist kein Nostalgiker: „Früher gab’s mehr Dreck, früher war der Arbeitsschutz nicht so wichtig wie heute.“

Dass „sein“ Revier heute so grün ist, dass die Industrie zur Kultur mutiert, dass dieses Werk noch zischt, dampft und rattert, macht ihn stolz. Typen wie er werden ­seltener, aber sie sterben nie ganz aus. Dazu fällt Holger Ries ein Satz voller Weisheit ein: „Eine Schraube bleibt immer eine Schraube.“ Heißt: Einer muss sie festziehen. Wenn es sein muss mit dem 41-er.