Veröffentlicht inPolitik

Hans-Dietrich Genscher: Politprofi, der für Europa kämpfte

Hans-Dietrich Genscher: Politprofi, der für Europa kämpfte

14910200705FE420.jpg
14910200705FE420.jpg Foto: dpa
Außenminister, Strippenzieher, Architekt der Einheit: Hans-Dietrich Genscher war den Deutschen auch ein Stabilitätsanker. Ein Nachruf.

Berlin. 

Am Tag nach seinem 63. Geburtstag lag Hans-Dietrich Genscher im weiträumigen Garten des deutschen Botschafters in Namibia in einem Liegestuhl und blinzelte in die afrikanische Sonne. Der weite Blick von der mit üppigen Oleander- und Hibiskus-Sträuchern gesäumten Terrasse auf die sanften Hügel am Rande der Hauptstadt Windhuk hatte etwas Beschauliches. „Es ist wunderschön“, sagte der Außenminister plötzlich in die Stille zu uns, „in der Politik Recht zu kriegen und das noch im Amt zu erleben.“

Wenn ihm jemand damals prophezeit hätte, hier, am Rande der Unabhängigkeitsfeiern für den gerade aus der Taufe gehobenen Staat Namibia, mit dem sowjetischen Außenminister über die bevorstehende Einheit Deutschlands zu verhandeln, fügte Genscher hinzu, „der sofortigen Entmündigung eines solchen politischen Fantasten hätte ich nicht widersprochen.“

Ikonographie deutscher Nachkriegsgeschichte

Jetzt hatten sich die Nebel gelichtet, die bipolare Welt der Jalta-Ära, die die Nachkriegsordnung geprägt und die Welt ein paar Mal an den Rand der atomaren Vernichtung geführt hatte, wich einem neuen Zeitalter. Wenige Monate zuvor, am 30. September 1989, hatte Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag den – wie er später bekannte – „bewegendsten Augenblick meiner politischen Arbeit“ erlebt. Seine frohe Botschaft an die im dunklen Park des Palais Lobkowicz ausharrenden über 5000 DDR-Flüchtlinge, ihre Ausreise in den Westen sei gesichert, zählt zur Ikonographie der deutschen Nachkriegsgeschichte – vergleichbar nur mit dem Kniefall Willy Brandts in Warschau. Später hat er gestanden, wie flau ihm war auf jenem Balkon, weil er den Flüchtlingen mitteilen musste, dass sie in versiegelten Zügen über das Territorium fahren müssten und ihm ein tausendfaches „Nein“ entgegen schallte. Aber die Absprache mit den DDR-Oberen sah das so vor.

Hans-Dietrich Genscher hatte früher als andere den Wind der Veränderung erkannt, der mit Gorbatschows Machtantritt aufzog. Dessen „neues Denken“ nahm der Außenminister „beim Wort“, als die Abrüstungsvorschläge des sowjetischen KPdSU-Generalsekretärs in Washington noch als Täuschungsmanöver abgetan wurden und Helmut Kohl den Kreml-Chef mit dem Nazi-Propagandisten Joseph Goebbels verglich. Am Ende sollte Genscher Recht behalten: In Europa fielen die Grenzzäune, der Eiserne Vorhang zerbarst, der Kalte Krieg ging zu Ende.

Streben nach kooperativer Sicherheit Europas

Dabei zählte er nicht zu jenen Neunmalklugen, die hernach kühn behaupteten, sie hätten die Wiedervereinigung schon immer vorausgesehen. Aber gehofft hatte er schon, das Ende der deutschen Teilung „bei normaler Lebenserwartung“ erleben zu können. Stets strebte dieser Architekt der deutschen Einheit nach kooperativer Sicherheit in Europa, plädierte für Verhandlungen als Ergänzung zu Aufrüstung und Waffenproduktion, arbeitete rastlos und zielstrebig an einem Netz persönlicher Verbindungen, quasi als vertrauensbildende Maßnahme. Dreh- und Angelpunkt im Denken dieses Außenministers war der Harmel-Bericht von 1967, benannt nach dem belgischen Außenminister, der mit militärischer Stärke und der gleichzeitigen Bereitschaft zu Verhandlungen die Entspannung zwischen Ost und West befördern wollte.

Kein Wunder, dass Genscher in der Entspannungspolitik der 70er und 80er Jahre in seinem Element war: Wie kaum ein anderer witterte er Chancen und Gefahren gleichermaßen. So konnte es auch nicht überraschen, dass der Außenminister a.D. just jenes Instrument aus dem Kalten Krieg in Erinnerung rief, als der nach der widerrechtlichen Besetzung der Krim durch Putins Russland Ost und West in einen neuen Kalten Krieg stürzten. Bis in seine letzten Tage hat Genscher die Notwendigkeit angemahnt, gerade in solchen Zeiten den Dialog wieder aufzunehmen. Das Verhältnis zu Russland, stellte er mit einigem Entsetzen fest, schien etlichen deutschen Politikern und Medien nicht mehr so wichtig zu sein. Er vermisste bei westlichen Partnern die Beharrlichkeit im Umgang mit dem zugegeben schwierigen Partner Putin. Und es ist nicht vermessen, zu behaupten, dass Genscher sein Lebenswerk gefährdet sah.

Begabter Strippenzieher im Bundestag 

Diese Mischung aus Zielstrebigkeit und Willenskraft ergibt sich aus den Lebensstationen des 1927 in Reideburg bei Halle gebürtigen Provinzsachsen. Seine Landsleute, bekannte er, seien „im allgemeinen helle, sehr friedfertige und gemütvolle Menschen“. Eben lauter Genschers. Nach dem Geburtsschein war Genscher Widder. Aber weil er am 21. März um Mitternacht zur Welt kam, las er, nach allen Seiten offen, stets auch das Fisch-Horoskop in der Morgenzeitung. Genschers Vater, Justiziar einer bäuerlichen Genossenschaft, starb früh und erlebte das Inferno der Nazis nicht mehr. Umso stärker war die Bindung des „Dieter“ gerufenen Einzelkindes an seine Mutter, auch als dieser schon Minister war. Den Hitlerjungen und Luftwaffenhelfer zog es nach der Katastrophe des Weltkrieges zum Jura-Studium nach Leipzig – und 1946 in die spätere Liberal Demokratische (Block)Partei. Schmunzelnd erzählte er von der hartleibigen DDR-Justizministerin Hilde Benjamin, die ihm in einer mündlichen Prüfung bescheinigt habe, er tauge nicht zum Kommunisten.

Als er 1952 in den Westen floh und sich in Bremen als Anwalt niederließ, liebäugelte er bald mit der Politik: Vier Jahre später wechselte Genscher als Assistent der FDP-Fraktion nach Bonn, entwickelte sich rasch zu einem begabten Strippenzieher und saß 1965 im Bundestag, zunächst als Parlamentarischer Geschäftsführer, 1969 avancierte er zum Innenminister in der sozial-liberalen Koalition, 1974 wurde er im Kabinett Helmut Schmidts Außenminister und Vizekanzler – und verharrte in diesen Ämtern 18 lange Jahre. Denn er überdauerte den Koalitionsbruch 1982 und blieb, später auch ohne FDP-Vorsitz, an der Seite Helmut Kohls im Amt bis zu seinem Rückzug im Mai 1992.

Rückschläge waren Quelle des Ansporns

Genschers atemlose Karriere ist ohne schwere Rückschläge in seiner persönlichen Existenz nicht zu erklären. 1946 erkrankte der damals 19-jährige an Tuberkulose. Zwischen seinem 20. und 30. Lebensjahr brachte er dreieinhalb Jahre in Krankenhäusern und Lungenheilstätten zu – in steter Sorge, Invalide zu werden und nie wieder einen Beruf ausüben zu können. Genscher durchlitt den von Thomas Mann beschriebenen „fortschreitenden Wirklichkeitsverlust“ des Tbc-Opfers, aber auch die „Illuminationen“ dieser im „Zauberberg“ verewigten tückischen Krankheit. Immer wieder wurde stereotyp geschlossen, die erzwungene Ruhe und das wieder geschenkte Leben seien die wahre Quelle der bis zu seinem Lebensende inneren Motorik Genschers gewesen. Das Erlebnis, zum Arbeiten fähig zu sein, sei ein Schlüssel für die Rastlosigkeit dieses Workaholic und nimmer müden Reisenden. (Über ihn ulkte einst Henry Kissinger, zwei Flugzeuge seien sich über dem Atlantik begegnet. In beiden habe Genscher gesessen.)

Diesen Mann, der wie eine Kerze an zwei Enden brannte, immer wieder von lebensgefährdenden Gesundheitsrisiken heimgesucht wurde und seine zahllosen strapaziösen Dienstreisen oft nur unter fachärztlicher Aufsicht zu bewältigen vermochte, begleitete immer wieder die unverhohlene Vorhersage, er werde nicht alt werden. Es häuften sich Herzanfälle bis zum Infarkt, später eine Harnleiteroperation, ein Darmverschluss, eine Lungenentzündung, zuletzt eine Herzklappen-Operation und ein Sturz , von dem er sich nicht wieder erholt hat. Zuletzt war auf den Rollstuhl angewiesen. „Meine Beine machen nicht mehr mit“, sagte er. Aber gestorben ist er, weil Herz und Kreislauf versagten. Derlei Krankheitsverläufe haben Genscher bis zu seinem Tod das zwanghafte Gefühl vermittelt, nichts auslassen, nichts versäumen zu dürfen. „Er muss immer im Mittelpunkt sein“, bekannte seine Frau Barbara einmal genervt.

Politprofi, seine Ziele stets im Auge 

Zu den Antrieben dieses Mannes zählte stets sein waches Bewusstsein, den sozialen Aufstieg in zäher Kärrnerarbeit bewältigt zu haben. Genscher, der auch physisch von der Droge Politik lebte, war von der Furcht getrieben, das Erreichte wieder zu verlieren. Das machte bei ihm das Taktische aus. Immer war dieser misstrauische Mann, der öffentlich so jovial wirkte, auf der Hut, Fehler zu vermeiden, Pannen auszuschließen und Rückschlägen vorzubeugen. Langlebige politische Widersacher wie Franz-Josef Strauß oder Herbert Wehner (der Genscher als „den mit den Ohren“ kennzeichnete) witterten hinter seiner Fähigkeit die – ihnen freilich ebenfalls eigene – Fähigkeit zum doppelten Spiel. Strauß beklagte die „bewusste Unverbindlichkeit“, Wehner die „Prinzipienlosigkeit“ Genschers. In der Tat verstand dieser Politprofi es meisterhaft, mit vielen Worten scheinbar nichts zu sagen und dabei doch seine Ziele stets im Auge zu behalten.

Größte Schwierigkeiten hatte der Außenminister mit diesen Eigenschaften bei konservativen amerikanischen Regierungen. Ohnehin unfähig, die innere Machtverteilung einer Koalitionsregierung mit Genscher zu begreifen, nannte ihn der frühere US-Botschafter Richard Burt einen „slippery man“ – einen, der sich alle Optionen offenhielt, der sich scheinbar nicht festlegte, der sich stets bedeckt hielt, um die Dinge unter Kontrolle zu halten. Der Kampfbegriff „Genscherismus“ war geboren. Damit verband der britische Historiker Timothy Garton Ash die Fähigkeit Genschers, „sich gleichzeitig mit dem Himmel und der Hölle zu verbinden.“

Stabilitätsanker für die Bürger

Tatsächlich verkörperte Genscher die Mittellage seiner sächsischen Heimat. Er neigte dazu, Probleme möglichst weich darzustellen. Er war auf Ausgleich bedacht und redete auch so. „Politik“, sagte er, „wird durch Worte gemacht“. Am besten im Fernsehen. Wohl einmalig in der Geschichte der Republik, drückte er mit Erfolg durch, dass seine Interviews und Statements nicht im Nachhinein beschnitten wurden. Fragen von uns Journalisten verstand der Profi Genscher virtuos ins Allgemeine auszudehnen. Was er nicht sagen wollte, gab er nicht preis. Er besetzte Begriffe (wie „Neidsteuer“ oder „sowjetische Vorrüstung“), gab damit Inhalte vor und wiederholte diese bis zur Erschöpfung des Publikums und ergebener Mitarbeiter. Irgendwann drehte er dann die verbale Schraube ein wenig weiter. Aber das bemerkte nur, wer aus langer Erfahrung genau hinzuhören vermochte.

Für die Bürger blieb Genscher auf diese Weise ein Stabilitätsanker und eine verlässliche Größe, die irgendwie beruhigend wirkte. Dieser Deutsche wie du und ich verstand sich aufreizend zivil zu geben, er wirkte auf jene, die ihn nicht näher kannten, als Gemütsmensch. So erklären sich Genschers fast durchgängig hohe Popularitätswerte, auf die er freilich mit Adleraugen achtete. Entsprechend leidend erlebte man ihn nach dem Koalitionsbruch 1982, als niemand mehr ein Stück Brot von ihm zu nehmen schien und sich politische Mitstreiter wie Günter Verheugen von ihm abwandten.

Bruch mit Helmut Schmidt

Mit diesen Eigenschaften und einer gehörigen Machtposition ausgestattet, war Hans-Dietrich Genscher in seinen 23 Ministerjahren einer der wirkungsmächtigsten Politiker der Republik. Aber wehe dem, der ihm das Kompliment zu machen versuchte, er habe unter d r e i Kanzlern „gedient“! „Zusammengearbeitet“ korrigierte er dann flugs, um seinen Anspruch auf Augenhöhe zu unterstreichen. Nicht von ungefähr behaupten manche, Genscher habe gar zwei dieser Kanzler gestürzt: Brandt und Schmidt. Den Einen habe er 1974 in den heillosen Konflikt mit absurden Lohnforderungen der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes (ÖTV) getrieben und überdies in der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume den Kanzler absichtsvoll nur unzureichend informiert. Den seinerzeit sagenumwobenen Vermerk seines Büroleiters Klaus Kinkel ließ er, „streng geheim“ gestempelt, in den Archiven verschwinden.

Dem anderen Kanzler habe er die Koalition unter dem Vorwand aufgekündigt, die SPD verweigere sich in ihrer Mehrheit gegen „die Nachrüstung“ mit atomaren Mittelstreckenraketen und sei überdies unwillig, den finanziellen Einschnitten FDP zu folgen. Dieses Verlangen hatte Otto Graf Lambsdorff, keineswegs ein Genscher-Fan, zu Papier gebracht. Die Wahrheit liegt, wie immer, irgendwo in der Mitte. Einseitige Schuldzuweisungen taugten schon damals nicht. Doch der Bruch mit dem verbitterten Helmut Schmidt war für Genscher halsbrecherisch und hätte der FDP um Haaresbreite die Existenz und ihm den Kopf kosten können – wenn nicht sein Duzfreund Helmut Kohl die fälligen Neuwahlen bis zur politischen Erholung der Liberalen hinausgezögert hätte. Lange herrschte Sprachlosigkeit zwischen Schmidt und Genscher. Doch nach der Jahrtausendwende suchte der Mann mit dem gelben Pullover den ewigen Raucher in dessen Reihenhaus in Hamburg-Langenhorn zu einem Versöhnungsgespräch auf. Da mag die Altersmilde beider eine Rolle gespielt haben.

Sehnsucht nach gesamteuropäischer Friedensordnung 

An den Rand des Rücktritts brachte den Innenminister Genscher der fatale Terroranschlag auf die israelischen Sportler während der Olympischen Spiele 1972 in München. Damals bot er sich, ohne seine Familie zu informieren, im Austausch als Geisel an. Aber seine Offerte, nach der stümperhaften Befreiungsaktion aus dem Amt zu scheiden, lehnte Brandt ab. Auch mit Kohl durchlebte Genscher schwerste Turbulenzen bis hin zur Drohung des Koalitionsbruchs – etwa bei der Weigerung der verstockten CDU/CSU, die polnische Westgrenze endgültig anzuerkennen oder auf die Modernisierung amerikanischer nuklearer Kurzstreckenraketen zu verzichten, als die Reformprozesse in Mitteleuropa längst liefen.

Zum diplomatischen Meisterstück gerieten Genscher die 1990 mit den vier alliierten Siegermächten und der DDR abgeschlossenen „Zwei-plus-Vier“-Verhandlungen über die Wiedererlangung der vollen Souveränität. Mit der auch außenpolitisch geregelten deutschen Einheit erfüllte sich ein Lebenstraum dieses auf Harmonie bedachten Politikers. Genschers Traum war, im Nachhinein betrachtet, durchaus das Ergebnis einer zielgerichteten Politik. Sie begann mit der Schlussakte der KSZE von Helsinki 1975 und ebnete den logischen Weg für die Entspannungspolitik. Der Außenpolitiker Genscher blieb nach Brandts Rücktritt ein Bewahrer der Entspannungspolitik, ein Antreiber hingegen in der Regierung Kohl. Zudem hatte er mit der Einführung der Europäischen Akte den Vertrag von Maastricht vorbereitet und so die Politische Union ein beträchtliches Stück näher gebracht. Nie verwunden hat der vielfach Dekorierte seine Enttäuschung, den Aachener Karlspreis nicht erhalten zu haben. Oder mit dem Nobelpreis gekrönt zu werden. Politisch unvollendet blieb die zu Lebzeiten Genschers ersehnte gesamteuropäische Friedensordnung „von Vancouver bis Wladiwostok“. Die werde es, davon war er bis zuletzt mit Recht überzeugt, nur mit und nicht gegen Russland geben.

Spekulationen über Rücktritt

Niemand vermochte sich vorzustellen, dass Hans-Dietrich Genscher einmal aus freien Stücken von seinem Amt zurücktreten würde. Als er es am 18. Mai 1992 dann doch tat, waren alle, auch seine engsten Mitarbeiter völlig perplex. Eingeweiht hatte der Außenminister seinen mit Ehefrau Barbara seit dem Sommer diskutierten Schritt nur den Bundeskanzler, nicht einmal die FDP-Spitze. Über seine Beweggründe ist viel spekuliert worden – bis hin zu der abenteuerlichen Vermutung, er habe der Entlarvung als sowjetischer Spion zuvorkommen wollen. Vehement setzte sich Genscher auch gegen eine bis heute gängige These durch, er habe mit der verfrühten Anerkennung Kroatiens den großen Kriegsbrand auf dem Balkan beschleunigt. In Wahrheit war es die prekäre Gesundheit, die Genscher zum Amtsverzicht zwang. Seine Ärzte hatten ihn gewarnt, er werde „mit den Füßen zuerst aus dem Auswärtigen Amt getragen“, wenn er nicht loslasse. Wer ihn näher kannte, ahnte zudem, dass dieser Mann nicht aus dem Amt gedrängt werden wollte. Stets hat er sich später im vertrauten Kreis befriedigt darüber geäußert, seinen Abgang von der politischen Bühne selbst bestimmt zu haben.

Vielleicht hat er überdies gespürt, dass seine Zeit abgelaufen war mit der Freiheitsrevolution in Europa und dem Ende des Ost-West-Konfliktes. „Nichts wird mehr so sein, wie es mal war“, hatte er seinen wiedervereinten Landsleuten zugerufen, als er im Dezember 1989 auf der Kanzel der spätgotischen Hallenkirche mit den vier Türmen seiner Heimatstadt Halle stand, wo Luther gepredigt und Händel das Orgelspiel erlernt hatte.

Liebevoller Vater und begeisterter Großpapa 

Gern wäre Genscher, was er später zu bestreiten suchte, Bundespräsident geworden, als Richard von Weizsäcker 1994 aus dem Amt schied. Kohls Zusage hatte er bereits. Nicht aber die seiner Frau Barbara, die der Staatszeremonielle und protokollarischen Rituale aus vielen Jahren an der Seite ihres Mannes überdrüssig war. Dieser blieb, privat ein liebevoller Vater und begeisterter Großpapa, aber auch so mit Haut und Haar bis zu seinem Tod ein öffentlicher Mensch – als Vortrags- und Festredner, als Memoirenschreiber, als gefragter (und gut honorierter) Türöffner für deutsche Unternehmen rund um den Globus, als Talkshow-Gast und unermüdlicher Partygänger. In den Amtssitzen und Kanzleien dieser Welt hatte dieser Außenminister stets Zugang zu den heute Mächtigen, für die er bereits Geschichte war. Er hielt Kontakt zur Kanzlerin in Berlin, traf sich mit früheren und gegenwärtigen Amtskollegen und Mitarbeiter, empfing daheim ausländische Botschafter. Auf seinem Sockel als Staatsmann blühte ihm bis zuletzt der Lorbeer. Anders als Kohl , seinem Mitarchitekten der Einheit , der nach der Parteispendenaffäre sprachbehindert vom Rollstuhl aus um seine verlorene Reputation kämpft.

Bei unserem letzten Treffen, einem Abendessen in Berlin, sorgte sich Genscher über den Zustand seiner liberalen Partei – er sah einen wichtigen Teil seines Lebenswerkes zerfallen, auch wenn er in seinen letzten Monaten fest an den Wiederaufstieg der Liberalen glaubte. Doch die Verbitterung blieb, auch wenn die verlorene Bundestagswahl 2014 schon lange zurück lag. Ungehört verhallt waren seine Ratschläge, sich nicht in der Wahl der Themen auf Wirtschaft und Steuern zu verengen und sich einseitig an die Union zu binden. Wäre es nach Genscher (und den Mehrheitsverhältnissen) gegangen, hätte sich die FDP womöglich längst in eine andere, sozial-liberale Richtung bewegt.

Doch seinen Nachfolgern, über deren Amateurhaftigkeit er zu lästern verstand, gingen die Ratschläge des Alten in Wachtberg-Pech eher auf die Nerven. Zu seinen Fehleinschätzungen mag zählen, dass er seinerzeit Guido Westerwelle riet, das Auswärtige Amt zu beanspruchen. Dabei wusste Genscher nur zu gut, dass diesem die „Chemie“ für die Außenpolitik völlig fehlte. Und er muss auch um den Bedeutungsverlust des Auswärtigen Amtes gewusst haben, dessen Chefs auf den G20- und G7-Gipfeln ebenso wenig mehr vertreten sind wie bei den EU-Räten. Allein, Persönlichkeiten wie Genscher und der derzeitige Amtsinhaber vermögen dem AA die gebührende Geltung zu verschaffen.

In Erinnerung wird Hans-Dietrich Genscher deshalb weniger als Koalitionsbrecher denn als Staatsmann und Außenminister bleiben. Und er war nicht der schlechteste.

Zum Kondolenzbuch