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Ganz abschalten – das geht nicht

Ganz abschalten – das geht nicht

Angesichts der Flut von E-Mails im Arbeitsalltag und nach Feierabend sollen Beschäftigte künftig besser vor Stress durch die ständige Erreichbarkeit geschützt werden. Erste Unternehmen haben reagiert. Der Essener Chemiekonzern Evonik hat eine „E-Mail-Bremse“ eingeführt.. Denn zu viel Stress macht krank.

Essen. 

Randolf Bursian nutzt im Dienst ein Blackberry-Handy, ein iPad und ein Laptop. Rund 50 relevante E-Mails erhält er im Schnitt pro Tag. Bursian arbeitet in der Zentrale des Essener Chemiekonzerns Evonik und ist dort für Vergütungs- und Arbeitszeitfragen zuständig. Seit mehr als 20 Jahren ist der 45-Jährige im Unternehmen. Im Laufe der Zeit sind die ­E-Mails immer wichtiger geworden – und mitunter auch ein belastender Faktor. „Einfach alle Geräte nach Feierabend abschalten – das funktioniert nicht in einem weltweit aktiven Chemieunternehmen, das rund um die Uhr in verschiedenen Zeitzonen tätig ist“, sagt Bursian.

Mittlerweile hat Evonik reagiert. Bursian war maßgeblich daran beteiligt, dass der Umgang mit Handys oder Laptops im Unternehmen klarer geregelt wird. „Wir wollen vermeiden, dass ein Mitarbeiter nach Feierabend, während einer Familienfeier oder auf dem Spielplatz mit den Kindern alle fünf Minuten auf sein blinkendes Blackberry-Gerät schaut“, erklärt er. „Stress entsteht, wenn jemand die Arbeit permanent in der Brusttasche bei sich trägt. Wer meint, jeden Moment könne eine wichtige E-Mail ankommen, kann einfach nicht mehr abschalten. Auf Dauer kann das krank machen.“

Nur eine Mail, wenn es wichtig ist

Eine Regel für das Wochenende oder den Feierabend lautet nun: Per E-Mail kommt nichts, was so wichtig ist, dass es sofort bearbeitet werden muss. Im Notfall soll es einen Anruf geben. So habe sich das Mail-Aufkommen am Wochenende halbiert. Die Regeln gelten für alle 21 000 Mitarbeiter von Evonik in Deutschland. „Es geht um einen Kultur- und Bewusstseinswandel“, sagt Bursian.

Auch in der Politik wird das Thema diskutiert. Unklar ist, ob sich die Große Koalition mit freiwillig vereinbarten Regeln in den Unternehmen zufrieden gibt oder auf gesetzliche Pflichten setzt. Thyssen-Krupp-Personalvorstand Oliver Burkhard spricht sich gegen ein „Anti-Stress-Gesetz“ aus. Dies sei unnötig, wenn die Vorgesetzten verantwortungsvoll handeln. „Jeder Mitarbeiter sollte auch mal eine E-Mail-Pause einlegen können“, wird bei Thyssen-Krupp betont. „Das Empfinden, was Mitarbeiter entlastet und was sie belastet, ist aber sehr unterschiedlich. Deshalb halten wir nichts von pauschalen Lösungen. Die könnten wir als globaler Konzern in einigen Bereichen auch nicht einhalten.“

NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) macht Druck. „Wir benötigen einen politischen Rahmen, der die Erreichbarkeit von Beschäftigten außerhalb ihrer Dienstzeiten regelt“, sagt Schneider. „Das kann ein Gesetz oder aber auch eine Verordnung sein. Wichtig ist nur: Die Einhaltung muss erzwingbar sein.“ Während einer bestimmten Stundenanzahl sollten die Beschäftigten nicht erreichbar sein. „Dazu müssen Zeiten grundsätzlich abgesteckt werden.“ Die Details sollten in den Betrieben geregelt werden.

Arbeitsministerin will handeln

„Das ist kein Luxusthema, auch kein Sahnehäubchen der Sozialpolitik. Es geht um Regeln, die dringend geboten sind“, betont Schneider. „Wenn nötig, werden wir eine Bundesratsinitiative starten. Ich gehe allerdings davon aus, dass es auch auf Bundesebene eine hohe Bereitschaft zum Handeln gibt.“ Zuständig ist Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Sie hatte sich offen gezeigt, genauere Regeln zur Erreichbarkeit von Mitarbeitern festzuschreiben.

Gut möglich, dass weitere Firmen dem Beispiel von Evonik folgen und „E-Mail-Bremsen“ einführen. Evonik-Mitarbeiter Randolf Bursian jedenfalls hat auch sein Verhalten verändert: „Auch ich habe mir abgewöhnt, am Wochenende an Kollegen E-Mails zu verschicken“, erzählt er. „Im Zweifel kann ich das, was ich formuliert habe, zwischenspeichern – und verschicke es am nächsten Montag.“