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Dem Revier geht's schlecht? Nicht im Vergleich mit Detroit

Dem Revier geht's schlecht? Nicht im Vergleich mit Detroit

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Foto: MATTHIAS GRABEN
Die Dortmunder Wissenschaftlerin Julia Sattler vergleicht das Ruhrgebiet mit Detroit in den USA. Dabei kommt die Ruhr-Metropole gut weg.

Dortmund. 

In ihrem Büro im Erd­geschoss der Dortmunder Universität hängt ein großes Poster, es zeigt eine gigantische Industrie­ruine. „Das war mal die größte Autofabrik der Welt“, sagt die Kulturwissenschaftlerin und Amerikanistin Julia Sattler. Das Foto entstand in Detroit, der Autostadt im Nordosten der USA. Mit dem ­Niedergang der Industrie verlor die Stadt ihren Lebensmotor. Ist Detroit mit Bochum vergleichbar, das sein Opelwerk verlor, gar mit dem Ruhrgebiet, das immer noch mit dem Strukturwandel kämpft?

Mit seinem Vorwurf, das Revier pflege eine „Lebenslüge“ und erwarte stets Hilfe von außen, hatte der Bochumer Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) eine neue Revier-Debatte ausgelöst. SPD-Chef Sigmar Gabriel hielt ­dagegen und lobte die Region für den Wandel zur Hochschul- und Wissenschaftslandschaft. Damit sind nur die beiden bekanntesten Stimmen im vielköpfigen Chor der Debatte benannt. Zeit, einen politisch unvoreingenommenen Blick auf das Revier zu werfen:

Für ein Forschungsprojekt ­widmete sich Julia Sattler dem ­Vergleich „postindustrieller Landschaften in den USA und Deutschland“, genauer: Sie nimmt die ­Region Detroit und das Ruhrgebiet unter die Lupe. „Wenn ich auf ­Detroit blicke, dann erscheint es mir doch so: Das Ruhrgebiet ­jammert auf hohem Niveau“, sagt die junge Wissenschaftlerin.

Pack-an-Mentalität fehlt

Mit den Arbeitsplätzen verschwanden in der US-Autostadt die Menschen, von zwei Millionen Einwohnern blieben nur 700.000, viele Familien zogen fort, ganze Viertel stehen leer und verrotten, 78.000 Häuser sind verlassen. Einen öffentlichen Nahverkehr gibt es kaum, Polizei, Feuerwehr und das Gesundheitssystem sind chronisch unterfinanziert. „Wenn man einen Krankenwagen ruft, dann kann das 45 ­Minuten dauern“, sagt sie. „Davon ist das Ruhrgebiet weit entfernt!“

Den Leuten in Detroit gehe es schlechter als den Bürgern in Gelsenkirchen oder Duisburg, sagt sie. „Doch sie wollen keine Hilfe von außen, sie warten nicht auf Geld vom Staat oder den großen Investor, der die Probleme mit einem Schlag löst. Die Menschen lieben ihre Stadt und wollen sie selbst ­wieder aufbauen.“ Diese aktivistische Mentalität vermisse sie hier.

Resignation macht sich breit

Nur schlaglichtartig leuchtet sie auf, wie etwa bei dem einjährigen Kunstprojekt „This is not Detroit“ des Bochumer Schauspielhauses, das nach der Schließung des Opelwerks die Menschen ermutigen wollte, sich nicht als Opfer, ­sondern als Gestalter des Wandels zu begreifen.

Die Revier-Städte kämpfen mit großen Problemen, weiß Julia Sattler. Überalterung, Arbeitslosigkeit, soziale Spaltung, überschuldete Städte, Armut – doch habe sich hier trotz Kulturhauptstadtjahr und zahllosen Investitionen eine gewisse Resignation breit gemacht: Es wird ja doch nicht besser.

Statt immer nur nach außen zu sehen und sich zu vergleichen, sollte sich das Ruhrgebiet auf seine Stärken besinnen und wahrnehmen, was es einzigartig macht: Die Kultur, die Menschen, die Hochschulen, die Industriekultur, die Offenheit und die Freiheit. „Das Ruhrgebiet schaut zu viel zurück in die Vergangenheit“, findet sie. Dafür gebe es mit dem Zollverein-Förderturm ein allgegenwärtiges Symbol. Aber was ist das Symbol für die Zukunft?

Ein besonderes Lebensgefühl

Das so oft beklagte Kirchturm­denken der Revierstädte findet sie gar nicht so gravierend. „In der Region Detroit sprechen die Bürgermeister gar nicht miteinander“, das sei hier ganz anders. Die Zusammenarbeit funktioniere im Prinzip recht gut, Vorbild seien auch die Universitäten in der Region.

Eine Gemeinsamkeit allerdings habe das Ruhrgebiet mit Detroit: „Das Revier ist eine künstliche ­Region, geschaffen durch die ­rasante Industrialisierung und ­deren Niedergang, sehr jung, ein Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten und voller Gegensätze. Das ist sehr amerikanisch.“ Das Revier musste sich dauernd neu ­erfinden, das bringe Probleme, ­andererseits auch Chancen für Neues. Julia Sattler: „Hier ist noch nicht alles festgelegt, hier ist vieles möglich. Viele meiner Studenten schätzen dieses Lebensgefühl. Das ist das Besondere am Ruhrgebiet.“

Zur Person:

Julia Sattler, geboren 1980 in Dortmund, ist wissenschaft­liche Mitarbeiterin der Amerikanistik an der TU Dortmund. Von 2012 bis 2015 leitete sie das vom Mercur-Programm der ­Stiftung Mercator geförderte Projekt zum urbanen Wandel in den USA. Nach ihrer Promotion, für die sie 2012 den Dissertationspreis der Fakultät für Kulturwissenschaften erhielt, befasste sie sich mit postindustriellen Landschaften in den USA und Deutschland, insbesondere mit dem Strukturwandel in ­Detroit und dem Ruhrgebiet.