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Bürgergeld: Immer mehr Menschen gehen zur Tafel – „Fragt sich, wie man über die Runden kommen soll“

Preise für Lebensmittel sind extrem hoch. Viele können sich den Einkauf nur noch schwer leisten. Immer mehr Menschen müssen auf die Tafeln zurückgreifen.

Immer mehr Menschen gehen zur Tafel. Die Gründe sind dabei ganz unterschiedlich.
© Monique Wüstenhagen | Tafel Deutschland e.V.

Das ist das neue Bürgergeld

Nach der Einigung im Vermittlungsausschuss haben Bundestag und Bundesrat die Einführung des Bürgergelds beschlossen. Damit kann die neue Grundsicherung für Langzeitarbeitslose wie geplant zum 1. Januar in Kraft treten.

„Lebensmittel retten. Menschen helfen“ – das schreibt sich die Tafel nun bereits schon seit 30 Jahren auf die Fahne. Die einzelnen Ausgabestellen der Tafeln unterstützen nicht nur armutsbetroffene Menschen, die beispielsweise Bürgergeld beziehen, mit Lebensmitteln, sondern schaffen auch Orte der Begegnung.

Gerade im vergangenen Jahr haben darauf immer mehr Menschen zurückgegriffen – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Im Interview erklärt der Vorsitzende Jochen Brühl, warum immer mehr Menschen kommen, in welcher Dilemma-Rolle sich die Tafel befindet und welchen Vorwurf er der Politik macht.

Bürgergeld: Tafel hilft zwei Millionen Menschen

„Wir haben ein paar schwierige Jahre hinter uns: Die Pandemie war eine harte Zeit, dann kamen der Krieg, die Inflation und gestiegene Preise“, betont Jochen Brühl. Im Jahr 2022 habe die Tafel im bundesweiten Durchschnitt 50 Prozent mehr Menschen geholfen.

„Aktuell unterstützen die Tafeln etwa zwei Millionen Menschen – so viel wie nie zuvor in unserer 30-jährigen Geschichte“, macht Brühl deutlich. In Deutschland gibt es heute 964 Tafeln mit 2.000 Ausgabestellen. Auf Twitter schreibt die nichtstaatliche Organisation, dass diese Tafel-Geschichte auch für soziale und ökologische Ungerechtigkeit in Politik und Gesellschaft stehe.

Die Tafeln erfahren einen immer größer werdenden Zulauf. „Seit 2022 machen Geflüchtete aus der Ukraine einen Teil unserer Kundinnen und Kunden aus, aber auch Menschen, die bereits hier waren, aber trotzdem an den Folgen des Krieges beteiligt sind – beispielsweise durch gestiegene Preise für Lebensmittel, Energie oder Benzin“, so Brühl.

Laut dem Tafel-Vorsitzenden kommen auch vermehrt Menschen zu den Ausgabestellen, die einen Job haben, ihren Lebensunterhalt in der aktuellen Zeit aber nicht mehr alleine stemmen können. Aber auch Menschen, die Sozialleistungen wie Bürgergeld beziehen, Studenten, denen das Bafög nicht ausreicht oder Rentner. „Rentner und Rentnerinnen sind schon länger eine größere Gruppe“, gibt Brühl zu bedenken.

Bürgergeld-Regelsatz viel zu niedrig

Die Gründe für den größeren Zulauf sind dabei ganz unterschiedlich: „Der Krieg, die daraus gestiegenen Kosten, keine krisenfesten Regelsätze seitens der Politik“, erklärt Brühl. Die Regelsatzerhöhung beim neuen Bürgergeld (502 Euro) sei laut Tafel nicht an die Krise angepasst und dementsprechend viel zu niedrig. „Es bräuchte krisenfeste Regelsätze, zielgerichtete und schnelle Hilfen.“

Der Vorsitzende richtet seinen Vorwurf ganz klar an die Politik: „Wenn jemand nichts oder wenig hat, fragt man sich schon, wie derjenige bei gestiegenen Preisen über die Runden kommen soll.“

Wie viele Menschen auch in diesem Jahr auf das Angebot der Tafeln zurückkommen, bleibt noch abzuwarten – die Organisation startet für 2023 eine Umfrage. Was sich bereits jetzt schon abzeichnet: „Da der Krieg anhält, werden weiterhin geflüchtete Menschen zu den Tafeln kommen.“

Bürgergeld: „Armut macht oft einsam“

Die Tafeln bieten bundesweit Hilfe, die über die Lebensmittelausgabe hinausgeht. Zum einen kämpft die Organisation gegen Lebensmittelverschwendung, zum anderen für soziale Teilhabe. So versucht die Tafel „stetig Lebensmittel-, Geld- und Sachspenden zu generieren“, so Brühl.

Doch mittlerweile bekämen die Ausgabestellen immer weniger Lebensmittel-Spenden. Die Tafel befinde sich da in einer „Dilemma-Rolle“: „Wir finden es immer gut, wenn Lebensmittel nicht verschwendet werden, aber auf der anderen Seite bekommen wir immer weniger, brauchen aber mehr“, betont der Vorsitzende. Die Tafel versuche deshalb die eigene Logistik besser auszubauen und mit Großhändlern zu kooperieren.

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„Tafeln sind mehr als Ausgabestellen von Lebensmitteln, sie sind Orte der Begegnung, Orte für ein soziales Miteinander“, erklärt Brühl. Menschen kommen bei den Tafeln zusammen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Und: „Bei vielen ist es so, dass viele Bekannte, Verwandte, Freunde nicht wissen, dass diese zur Tafel gehen, weil die Scham extrem hoch ist sagen zu müssen: ‚ich komme alleine nicht klar, ich brauche Unterstützung, ich kann mir nicht mal mehr Grundnahrungsmittel leisten'“, betont Brühl. Armut mache deshalb auch ganz oft einsam. Um dem entgegen zu wirken bieten die Tafeln Seniorentische an oder initiieren Projekte für Schulkinder.

Bürgergeld: Wie ist die Lage der Tafel?

An den Ausgabestellen sind 90 bis 95 Prozent der Helfer ehrenamtlich. Das Problem aber ist: „Unsere Helfer sind extrem am Limit, das hat sich in den vergangenen Jahren noch einmal zugespitzt, sie sind psychisch und physisch belastet“, mahnt Brühl.


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Durch den Zulauf an immer mehr Menschen und gleichzeitig weniger gespendeten Lebensmitteln, mussten rund 32 Prozent der Tafeln im letzten Jahr vorübergehend und teilweise bis jetzt einen Aufnahmestopp verhängen. „Wenn man dann noch Leute abweisen muss, dann macht das etwas mit den Menschen – und ist vor allem eine psychische Belastung sowie Herausforderung“, so Brühl. Doch: „Man muss die Gesellschaft aber auch loben: wir spüren eine starke Solidarität.“