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Bröckelnder Beton und Geisterstädte in Tschernobyl

Bröckelnder Beton und Geisterstädte in Tschernobyl

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Foto: WAZ
25 Jahre nach der Atomkatastrophe bleiben in Tschernobyl nur Geisterstädte und bröckelnder Beton. Eine Reise in die Sperrzone des Unglücksreaktors, in der die Folgen noch immer allgegenwärtig sind.

Tschernobyl. 

Die Reise in die Unglückseligkeit kostet umgerechnet 150 Euro. Dafür gibt es den Passierschein und den Platz im Kleinbus. Zwei Stunden geht es von der ukrainischen Hauptstadt Kiew nach Norden, immer tiefer in die Provinz.

Und es ist, als ob rechts und links die Farben immer mehr verblassen, je näher sie kommt: die 30-Kilometer-Sperrzone rings um den havarierten Reaktorblock 4 von Tschernobyl. Die No-Go-Area einer Hochtechnologie.

Der Eingang zur Zone. Das Militär am Schlagbaum will es genau wissen. Akribisch prüft der Soldat den Pass, vergleicht die Nummer mit den Angaben auf der Liste. Nur wer die Genehmigung der Regierung hat, darf hinein. „Da“, sagt der Soldat endlich, „ja“. Die Schranke hebt sich.

Der innere Ring

Im Dorf Tschernobyl gibt es wenige Minuten später die letzte Raucherpause, die letzte Gelegenheit, zur Toilette zu gehen. Ein letztes Mal geht es um die Sicherheit. Schriftlich versichern die Besucher, dass sie über das Gesundheitsrisiko unterrichtet wurden.

Weiter geht es, immer gerade aus, bis zum Checkpoint am inneren 10-Kilometer-Ring rund um den Unglücksreaktor. Ein Soldat steigt in den Bus, wieder werden die Pässe geprüft. Weiter geht es, den Kühlwasserkanal entlang. Der Bus stoppt, und plötzlich steht sie da, kaum mehr als hundert Meter entfernt: Die Ruine von Reaktor 4, der am 26. April 1986 explodierte.

800 000 junge Männer im Einsatz

Ist es der Ort, oder ist es der kalte Wind, der den Betrachter erschaudern lässt? Tscher­nobyl bietet einen gruseligen Anblick. Rostig ist die Flanke des havarierten Kraftzentrums, krumm und schief kleben die schweren Stahlplatten am Gebäude, das von einem Metallgerüst gestützt werden muss.

Binnen weniger Monate hatten hier 800 000 Helfer, die Liquidatoren, unter dem Einsatz ihres Lebens den Reaktor in einen Sarg gebettet. „Schauen Sie“, sagt Heinz Smital, Atomexperte von Greenpeace, und hebt sein Messgerät, „er strahlt aus seiner Hülle wie eine Lampe.“ Der Zeiger, er steht auf Maximum.

Der Rote Wald

Immer wieder melden die Messinstrumente auf der Fahrt über das Kraftwerks­gelände Radioaktivität. Am „Roten Wald“ aber schreien sie Alarm: An dieser Stelle, vermuten Experten, gingen nach dem Unglück so viele radioaktive Stoffe nieder, dass sich die Bäume verfärbten.

Das Sperrgebiet um den Reaktor, es ist das Reich der „Knochensucher“. So heißen die frei­gesetzten Radionuklide Cäsium 137 und Strontium 90 mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren. Sie lagern sich wie Kalzium in Knochen ein, führen zu Krebs oder Leukämie. Cäsium und Strontium – Tschernobyls Ewigkeitslasten.

Abstrakt ist die Gefahr. Man sieht sie nicht, schmeckt sie nicht, spürt sie weder auf der Haut noch in den Ohren. Bis man nach Pripjat kommt. Dann erst begreift man die Dimension der Katastrophe.

Stolze Stadt der Ingenieure

Nur zwei Kilometer entfernt liegt sie, zu Füßen des Reaktors: Pripjat, diese stolze Stadt der Ingenieure. Sie wurde aus dem Boden gestampft, um den Arbeitern des Kernkraftwerks eine Heimat zu geben. 50000 wohnten hier. Doch von einem Tag auf den nächsten verlor Pripjat das Wesentliche: seine Bewohner.

25 Jahre nach der Evakuierung herrscht die Natur allein. Pflanzen bohren sich durch den Asphalt. Aus Treppenstufen wachsen Bäume. Die Jahreszeiten kommen und gehen, die Menschen nicht mehr.

Während sich die Welt weiter drehte und die Sowjetrepubliken vergingen, blieb die Zeit in Pripjat stehen. Irgendjemand hat die Zeiger der Uhr an der Hauswand auf 1.23 Uhr gestellt. Es ist die Minute des Reaktorunglücks.

Leere Hüllen

Die Häuser sind leere Hüllen, denn Plünderer schleppten alles fort. Pripjat ist heute ein Museum des real existierenden Sozialismus. Noch immer ist die Straße zur Stadtmitte nach Lenin benannt. Noch immer atmet das Hotel Polissia diesen Sowjet-Chic. Und es gib es einen Platz, dort hatten sie einen Vergnügungspark errichtet, um den 1. Mai zu feiern.

Doch das Riesenrad drehte sich nie. Im Autodrom fuhr kein einziger der bunten Scooter. Auf den Schaukeln lachte nie ein Kind. In der ganzen Stadt lachte seitdem nie ­wieder ein Kind. Denn für das Vergnügen ist kein Platz mehr an einem Ort, den die Menschen einfach nur vergessen möchten. Es wird 300 Jahre dauern, ehe die Knochen­sucher gegangen sind.

Dienst in der Sperrzone

Doch es leben Menschen in der Sperrzone. 7000 arbeiten dort, allein 3500 auf dem Gelände des Kraftwerks. Sie sollen den brüchigen Sarkophag instand halten, den Verfall technischer Anlagen stoppen, die Wälder in Ordnung zu bringen. „Eine große Gefahr sind Waldbrände im Sommer, denn das Feuer könnte die radioaktiven Stoffe in den Böden wieder freisetzen“, sagt Fremdenführer Nicolai Fomin (24).

Wie viele andere wohnt er im Dorf Tschernobyl. Maximal 14 Tage darf er in der Zone sein. Dann muss er raus. „Es ist eine gute Arbeit“, sagt Nicolai. Tschernobyl-Arbeiter verdienen mehr als im Landesschnitt, haben mehr Urlaub.

Niemand weiß, wie viele zurückkehrten

Auch in Kupowate, einem Dorf mitten im Sperrgebiet, gibt es Leben. Hanna Saworodnia ist 78 Jahre, und sie hat keinen um Erlaubnis gefragt, als sie nur ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe heimlich wieder in ihr Dorf zurück kehrte, „weil meine Heimat hier ist.“ Selbstsiedler heißen Menschen wie sie. Niemand weiß wirklich, wie viele im Sperrgebiet wohnen.

Todeszone, da muss sie lachen. „Ach was, hier gibt’s keine Strahlen. Mir geht es gut“, sagt die Ukrainerin und bittet die Schar Journalisten in ihre kleine Wohnstube, wo ihre kranke Schwester im Bett liegt und in die Scheinwerfer der Kameras blinzelt. Es ist nicht die erste Besuchergruppe, die Hanna Saworodnia empfängt. Freitags kommt die Lebensmittellieferung, erzählt sie. Hühner hat sie, Schweine auch, die Kuh aber nicht mehr. Und aus den Birken am Haus zapft sie Saft. Ein Handy klingelt, es gehört Frau Saworodnia: „Du glaubst es nicht“, sagt sie zu ihrer Verwandten am anderen Ende, „ich habe das Haus voller Menschen.“

Das Feuer der Götter

Geschichten wie diese kreisen im Kopf, als sich der Bus auf den Weg aus der Sperrzone macht. Ein Bild aber bleibt. Es zeigt die Statue, die man nach dem Unfall aus Pripjat herbeischaffte und sie vor dem Reaktor aufstellte. Früher war das Bildnis der Stolz der Atomtechniker, heute soll es ­Mahnung sein. Es zeigt Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl, um es den ­Menschen zu bringen.

In Fukushima überlegt man nun, eine Gartenstadt rund um die zerstörten Reaktoren zu bauen.