NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat ihren Gestaltungsanspruch im Bundesrat bekräftigt. Die Große Koalition habe im Bundesrat keine Mehrheit. Konflikte zwischen Bund und Ländern werde es deshalb immer wieder geben. Im Interview spricht sie über ihr Bekenntnis zu Bildung und Infrastruktur, das Verhältnis von rot-grün in NRW und das Gelingen der Energiewende.
Düsseldorf.
Der Blick aus dem verglasten Hochhaus geht auf den Rhein. „Stadttor“ nennt sich der futuristische Bau, in den Wolfgang Clement als NRW-Ministerpräsident die Staatskanzlei verlegte. Hannelore Kraft hat die Bilder ausgetauscht: Statt eines Gemäldes von Emil Schumacher hängt nun eine farbenfrohe Collage von Kinderbildern hinter ihrem Schreibtisch. Im Gespräch mit unserer Zeitung betont sie immer wieder, wie wichtig ihr der ländliche Raum sei.
Als Ministerpräsidentin und Mitglied des SPD-Präsidiums haben Sie auch in Berlin eine wichtige Rolle im Regierungshandeln. Wie beansprucht Sie diese Aufgabe?
Hannelore Kraft: Nach den anstrengenden Verhandlungen für den Koalitionsvertrag ist dieser Teil meiner Aufgabe wieder auf ein Normalmaß zurückgegangen. Die Parteigremien tagen nur noch alle zwei Wochen in Berlin, zwischendurch hält das Präsidium über Telefonschalten Kontakt. Wir stimmen uns eng ab, doch allen ist klar, dass es auch immer wieder schwierige Punkte geben wird zwischen der Großen Koalition im Bund und dem Bundesrat, wo es in den Ländern ganz unterschiedliche Parteikonstellationen gibt. Ich habe mich schon in den Koalitionsverhandlungen über die Kommentare gewundert, die Große Koalition habe eine Mehrheit im Bundesrat. Das ist nicht so. Ein schwarz-grünes Land ist kein CDU-Land und ein rot-grünes verhält sich im Bundesrat nicht wie ein SPD-Land. Da wird es zwischen Bund und Ländern auch immer wieder Konflikte und Enthaltungen von Ländern geben, aber ich bin zuversichtlich, dass wir für die wichtigen politischen Themen gemeinsame Lösungen finden.
Hat sich durch die Große Koalition auch das Verhältnis der Düsseldorfer Koalition verändert?
Kraft: Nein, ähnliche Situationen kennen alle Beteiligten schon von früher. Klar wird es auch mal Konflikte geben, weil SPD und Grüne in Berlin andere Rollen haben als in NRW, aber die tragen wir auf einer sehr sachlichen Ebene aus. Und Schwarz-Grün in Berlin hätte uns in NRW das Leben auch nicht leichter gemacht. Im Zweifelsfall gibt es im Bundesrat eine Enthaltung.
Die CDU hat sich in den Koalitionsverhandlungen deutlich bewegt. Dann kam ein schlechter Start der Bundesregierung. Wie sehen Sie die Situation heute?
Kraft: Entscheidend ist, was im Koalitionsvertrag steht. Wenn ich mir die Entscheidung zum Doppelpass für hier geborene Migranten anschaue, dann bin ich zufrieden. Die SPD konnte wesentliche Fortschritte für die Betroffenen erreichen. Die Optionspflicht für Junge ist weg.
Ihr demokratisches Mandat aber kommt aus NRW. Welchen Anspruch macht NRW in Berlin geltend?
Kraft: Für uns stehen Investitionen in Bildung, Infrastruktur, finanzielle Ausstattung der Kommunen und die Energiewende ganz oben auf der Agenda. Diese Punkte müssen wir gemeinsam zum Erfolg führen.
Wenn wir auf die Bildung schauen, fällt der Blick auf die Inklusion. Stürzen wir uns dort nicht in ein Abenteuer?
Kraft: Deutschland insgesamt hat sich zur Umsetzung einer UN-Konvention verpflichtet, die bereits 2009 von der Bundesrepublik ratifiziert wurde. Inklusion ist also keine Erfindung der rot-grünen Landesregierung. Dass sich NRW als erstes Flächenland jetzt auf den Weg macht, wird sehr positiv gesehen. Übrigens: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit besonderem pädagogischem Förderbedarf liegt bei etwa sieben Prozent. Es sollte uns wie anderen europäischen Ländern gelingen, sie sehr viel stärker in das Regelschulsystem zu integrieren. Deshalb arbeiten wir mit Schwerpunktschulen und beginnen schrittweise mit den ersten und fünften Klassen. Bis 2017 investiert das Land über eine Milliarde Euro für die Umsetzung der schulischen Inklusion. Neben 3215 zusätzlichen Lehrern stellen wir allein 100 Millionen für die Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer.
Vergessen wir bei diesen gesellschaftlichen Veränderungen die gesunden Kinder?
Kraft: Unser Ziel ist die bessere individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Für mich ist Inklusion ein Teil davon. Das bedeutet aber auch, dass die Leistungsstärkeren in einer Klasse ebenfalls besser individuell gefördert werden müssen. Es ist ein ganz wichtiger Schritt, dass wir jetzt mit den kommunalen Spitzenverbänden eine Verständigung erzielt haben, dass sie auf Klagen verzichten und das Thema aus dem Kommunalwahlkampf rausgehalten wird. Das ist gut für Eltern, Kinder und Lehrer.
Die Lehrer beklagen unabhängig davon mangelnden Respekt ihrem Berufsstand gegenüber. Ist das aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
Kraft: Lehrerschelte habe ich noch nie betrieben und werde das auch nicht tun. Lehrerinnen und Lehrer genießen meinen hohen Respekt. Die Politik hat ihnen nach dem Pisaschock viel an Reformen zugemutet. Aber damals ging es nicht anders. Und wenn ich mir jetzt die neue Debatte um G9/G8 anschaue, dann entzündet sich nach meiner Wahrnehmung die Kritik vor allem an der Unterrichtsverdichtung in den Klassen 5 bis 10. Das hat die frühere Regierung Rüttgers so beschlossen, wir als SPD wollten damals stattdessen ein Schuljahr während der Oberstufe verkürzen. Als wir 2010 wieder die Regierung übernommen haben, haben wir allen Gymnasien angeboten, zu G9 zurück zu kehren. 13 Gymnasien haben sich dafür entschieden. Wir haben jetzt zu einem Runden Tisch am 5. Mai eingeladen, um über Entlastungen für Schüler zu sprechen. Wir müssen es schaffen, Druck aus dem System zu nehmen.
Wie wollen Sie die Lehrer für die anstehenden Aufgaben motivieren?
Kraft: Ich würde die Lehrer sehr gern die nächsten 20 Jahre in Ruhe arbeiten lassen. Aber wir können beispielsweise nichts für diese neue G9/G8-Debatte in anderen Bundesländern. Klar ist auch, dass größere Fortschritte beim gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap notwendig sind. Wenn Eltern, Schüler und Lehrer dabei mitwirken, wird das auch gelingen.
Apropos gelingen: Wie konstruktiv müssen denn die Länder sein, wenn die Energiewende gelingen soll?
Kraft: Die Länder sind konstruktiv. Das hat die jüngste Verständigung mit der Bundesregierung bei der EEG-Reform gezeigt. Allen ist das Ziel klar, bis zum Jahr 2050 80 Prozent der Energie aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen.
Bis dahin aber werden die konventionellen Kraftwerke wirtschaftlich nicht durchhalten. Müssen wir nicht mehr tun für eine dezentrale Energieversorgung?
Kraft: Wir wissen, dass nicht immer der Wind weht und die Sonne scheint. Deshalb werden wir noch eine ganze Zeit lang konventionelle Kraftwerke als Backup brauchen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Zumindest so lange wir keine ausreichende und kostengünstige Speichermöglichkeiten für Wind- und Sonnenenergie zur Verfügung haben. Für den Übergang fahren wir also zwei parallele Systeme. Daraus resultieren Kosten. Man muss ehrlich bleiben, dass die Energiewende eben nicht zum Null-Tarif zu haben ist.
Und wer soll die Kosten tragen?
Kraft: Die Finanzierung der Energiewende erfolgt über die EEG-Umlage. Hier haben wir in den vergangenen Jahren deutliche Steigerungen gehabt. Das gefährdet die Akzeptanz der Energiewende in der Bevölkerung. Mit der nun verabredeten EEG-Reform können wir den Kostenanstieg wirksam begrenzen. Es ist auch ein ganz wichtiges Signal für den Industriestandort NRW, dass Wirtschaftsminister Gabriel bei der Entlastung der energieintensiven Industrie von der EEG-Umlage jetzt eine Verständigung mit der EU-Kommission in Brüssel erreicht hat. Nach der EEG-Reform müssen wir über die Finanzierung der Kapazitätsreserve aus konventionellen Kraftwerken nachdenken. Heute ist geregelt, dass wichtige Kraftwerke am Netz bleiben müssen und die Betreiber dafür entschädigt werden.
Das wird den Energie-Versorger in Südwestfalen freuen zu hören. Der hat nämlich schon Abschaltungsanträge gestellt. Aber lassen Sie uns noch zum Thema Landesentwicklungsplan kommen. Kommen die Interessen des ländlichen Raums dort nicht zu kurz?
Kraft: Nein, diese Befürchtung ist unbegründet. Die Gemeinden können selbstverständlich auch künftig Flächen für Wohnen, Gewerbe und Industrie entwickeln. Da NRW aber dichter besiedelt ist als alle anderen Flächenländer in Deutschland, wollen wir dabei so sparsam wie möglich mit dem knappen Raum umgehen. Das gehört für mich auch zum Ziel: Bewahrung der Schöpfung. Derzeit liegt erst ein Referentenentwurf des Landesentwicklungsplans vor. Dazu sind etwa 1500 Stellungnahmen eingegangen, die nun sorgfältig ausgewertet werden. Es soll auch weiterhin in kleineren Ortschaften im ländlichen Raum eine Eigenentwicklung stattfinden. Doch viele ländlich geprägte Räume werden durch zurückgehende Bevölkerungszahlen stärker betroffen sein. Aber keine große Wirtschaftsinvestition ist jemals an der Landesplanung gescheitert.
Wo verbringen Sie die Ostertage?
Kraft: Da wegen der Bundestagswahl der Sommerurlaub ausgefallen ist, sind wir in den Osterferien im Ausland. Aber für den Sommer haben wir Sundern-Hachen schon wieder gebucht. Da bin ich seit 14 Jahren bei der Familienfreizeit vom Landessportbund.