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Frau erzählt nach 40 Jahren tragische Geschichte: Wie ich versehentlich einen kleinen Jungen tötete

Frau erzählt nach 40 Jahren tragische Geschichte: Wie ich versehentlich einen kleinen Jungen tötete

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Silhouette shadow of woman looking at city from office Foto: Getty Images
  • Maryann Gray war 22 Jahre alt, als ihr der kleine Brian vors Auto lief
  • Seitdem ist das Leben der Amerikanerin nicht mehr, wie es einmal war
  • Nun schilderte sie ihre Geschichte der BBC

Berlin. 

Maryann Gray war 22 Jahre alt. Ihr ganzes Leben lag vor ihr, alles schien möglich. Bis zu dem Tag, an dem der kleine Brian plötzlich vor ihr Auto lief.

„Ich sah ihn in letzter Sekunde“, erinnert sich Gray heute. „Ich versuchte noch auszuweichen, aber es gab keine Möglichkeit, ihn zu verfehlen.“

Mutter kollabierte in Armen der Nachbarn

Brian starb noch an der Unfallstelle. Seine Mutter kam aus dem Haus gerannt, schrie in Panik den Namen ihres Sohnes, bevor sie in den Armen der Nachbarn kollabierte.

40 Jahre ist das her. Gray weiß, dass sie rechtlich keine Schuld trifft. Sie fuhr weder zu schnell noch war sie durch etwas abgelenkt. Es war ein Unfall. Trotzdem lässt sie ein Satz nicht los: „Du hast ein Kind getötet.“

Nach dem Unfall beginnen die Halluzinationen

Bis heute begleiten Gray die Schuldgefühle, wie sie nun der BBC schilderte. „Ich dachte an Brian, als ich heiratete. Ich dachte an Brian, als mein Vater starb. Ich dachte an Brian, als ich meine Dissertation verteidigte. Ich dachte an Brian, als ich meinen neuen Job begann. Er lebte mit mir.“

In den Tagen nach dem Unfall begann Gray zu halluzinieren. Beim Autofahren dachte sie oft, jemand würde auf die Straße laufen, also trat sie unnötigerweise in die Bremsen. „Ich war so verängstigt, ich fuhr danach zwei Jahre lang kein Auto.“

Gray entschied sich gegen Kinder

Mehrere Jahre lang habe sie sich selbst bestraft und Menschen von sich weggestoßen. „Ich datete Männer, die mich schlecht behandelten, ich hatte nicht wirklich Freunde“, erinnert sich Gray. Erst als sie von Cincinnati nach Kalifornien umzog und ein Psychologie-Studium begann, wurde es ein wenig besser.

Doch Brians Tod beeinflusste Grays Leben weiter. Im Umgang mit Kindern war sie stets ängstlich. „Ich dachte nicht, dass ich eine gute Mutter sein könnte, also entschied ich mich gegen Kinder, was ich sehr bedauere, auch wenn es die richtige Entscheidung für mich war.“

Anderer Autounfall brachte die Wende

Jahrzehntelang sprach Gray nicht mehr über den Unfall. Erst als 2003 ein 86-Jähriger in Santa Monica in eine Menschenmenge raste und dabei mehrere Menschen tötete, begann sie ihre eigene Geschichte in einem Schreibworkshop mit dem aktuellen Unglück zu verweben. Die Kursleiterin ermutigte sie später, die Geschichte öffentlich zu machen. Und das tat Gray.

Sie rechnete mit Hassmails, doch stattdessen erhielt sie viel Zuspruch. „Enge Freunde, denen ich nie davon erzählt hatte, hörten mich im Radio und waren allesamt mitfühlend und unterstützend. Sie sagten mir, ich sei stark und dass es ihnen leid tue, was mir passiert sei.“

Gray kontaktierte Brians Familie

Mit der Zeit fand Gray auch die Kraft, etwas zu tun, das sie sich schon lange vorgenommen, aber nie gewagt hatte: Brians Familie kontaktieren.

Sie schrieb einen Brief an seine Mutter, doch sie war inzwischen gestorben. Grays Post wurde an Brians älteren Bruder weitergeleitet.

Brians Bruder machte sie ausfindig

Eines Tages klingelte das Telefon. Brians Bruder war dran, er hatte ihre Kontaktdaten online gefunden. Zuerst sei er sehr wütend gewesen, erzählte ihr, wie sehr seine Familie gelitten habe. Doch je länger das Gespräch dauerte, desto sanfter sei er geworden.

„Er wusste nicht, dass ich mein Beileid in einem Telefonat ausgedrückt hatte und nach dem Unfall mit seinem Vater gesprochen hatte. Sein Vater war sehr freundlich zu mir gewesen und das hatte einen großen Effekt auf ihn.“

„Sind Sie zu schnell gefahren?“

Am Ende des Telefonats fragte Gray Brians Bruder: „Was möchten Sie mich fragen? Sie können mich alles fragen.“

Er sagte: „Sind Sie zu schnell gefahren?“

„Nein, das bin ich nicht“, antwortete Gray. „Es tut mir leid, es tut mir so unendlich leid, aber Ihr Bruder kam einfach auf die Straße gerannt.“

„Ich weiß“, sagte er. „Falsche Zeit, falscher Ort.“

Es war der Moment, in dem Gray erstmals Vergebung fühlte. (cho)