Wenn Kinder anfangen zu sprechen, kann das ebenso bizarr wie anstrengend sein
Es ist so weit: Die ganze Familie kann sich in fast vollständigen Sätzen miteinander verständigen. Sogar der Zweieinhalbjährige redet neuerdings mit. Sein Lieblingssatz ist: „Neihein! Ich piele!“ Er benutzt ihn universal und immer dann, wenn ich etwas von ihm will: Anziehen, Zähneputzen, Aufräumen. Ich: „Abendessen ist fertig, kommst du?“ Er „Neihein!“ Ich: „Dohoch“ Er: „Neihein! Ich piele!“ Ich: „Es gibt Kakao.“ Kurzes Zögern, dann aber doch: „Neihein.“ Ich: „Gut, dann trinke ich den.“ Er (gnädig): „Na dut. Komme.“ „Na dut“ ist seine zweite Lieblingsredewendung, weil er damit seine Souveränität unter Beweis stellen kann. Er kommt nicht, weil er soll, sondern weil er entschieden hat, dass er will.
Klar, man lebt schon einige Zeit mit dem Kind zusammen. Kennt ein paar Eigenarten, weiß, ob es vom Temperament her ein kleiner Sonnenschein (eher nicht) oder ein Schneisen der Zerstörung hinterlassender Tornado ist (eher ja). Aber so richtig lernt man das Kind erst kennen, wenn es zu sprechen anfängt. Wenn es seine Bedürfnisse äußern kann. Ich: „Ist dir kalt?“ Er (wehleidig): „Jaaa.“ Ich: „Dann ziehe ich dir deine Jacke an.“ Er (wehleidig): „Jaaa.“ Ich ziehe ihm die Jacke an. Er reißt sie sich von den Armen und pfeffert sie auf den Boden. „Nein! Jacke! Nicht! Kalt.“ Sein neuster Trick ist „Jein.“ Das macht ihm großen Spaß, weil wir dann einfach immer gegen ihn verlieren.
Der dritte Lieblingssatz lautet: „Ich mach doßen Unsinn.“ Und das trifft auf so ungefähr alles zu. Tritt er mir aus Versehen auf den Fuß und ich sage „Aua“, schaut er mich zuerst begeistert an, dann hebt er seinen Fuß noch einmal an und tritt richtig zu. Seit ich ihm einmal gesagt habe, er solle bitte die Füße vom Tisch nehmen, ist das seine bevorzugte Sitzhaltung. „Möchtest du Müsli oder ein Brot?“ Er, die kleinen Füße in den viel zu großen Glitzerschläppchen der Schwester auf dem Tisch: „Ich nöchte Alkohol!“ Ich: ????? Er: „Ich nöchte Bier.“ Im Spanienurlaub vor einigen Wochen in dem kleinen, feinen Modegeschäft, wo er es noch im Hinausgehen schaffte, den Ständer mit den Bikinis umzuwerfen, hat er den Spitznamen „Terremoto“ bekommen: Das Erdbeben. Vor ein paar Tagen stand er spät abends auf, lief zu seiner schlafenden Schwester, biss sie in den Finger und rief begeistert: „Beißen! Ist! Lieb!“
Ich gebe es zu, als meine Tochter so klein war, habe ich mich oft gefragt, warum so viele Eltern ihre Kinder zu kleinen Satansbraten erziehen. So schwer ist Kindererziehung nun auch wieder nicht. Ist sie doch. Jetzt lerne ich es auf die harte Tour.
Der Kleine trainiert derweil weiter seinen Wortschatz. Mindestens drei Bilderbücher müssen es jeden Abend sein. Dann kuschelt er sich mit seinem Lockenköpfchen an, das Lieblingsstofftier fest im Arm, und ich wundere mich, wie klein er eigentlich noch ist. Wir üben auch die Farben. Ich: „Und welche Farbe hat die Gießkanne?“ Er: „Rosa.“ Ich: „Nein, die ist grün. Und welche Farbe hat die Gurke hier?“ Er: „Rosa.“ Ich: „Grün!“ Wir blättern weiter. Er ruft entzückt: „Oh! Bohrmaschine!“ Ich: „Ja, eine BLAUE Bohrmaschine. Welche Farbe hat die?“ Er (grinst): „Rosa! Bohrmaschine!“
Vor kurzem, am St. Martinstag, saß er neben vielen anderen Kindern in der Kirche vor dem Altar und schaute einer kleinen Vorführung zu. Als dem heiligen Martin die Bischofsmütze aufgesetzt wurde, stand der Zweieinhalbjährige weinend auf und suchte uns. Ich rettete ihn auf meinen Schoß.
An diesem Tag ist es mir zum ersten Mal richtig klar geworden: Dieser kleine Anarchist, der sich am Strand fünf Liegen weit entfernt von uns hinlegt und lässig die Beine übereinanderschlägt, der sich im Auto wie selbstverständlich hinters Lenkrad setzt und sagt: „Ich fahre heute!“, er ist nur so ein kleiner Rüpel, wenn es ihm gut geht, wenn er sich sicher fühlt. Und das ist doch eigentlich ein gutes Zeichen.