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Dr. Sommer ist tot – der Mann, der Deutschland aufklärte

Dr. Sommer ist tot – der Mann, der Deutschland aufklärte

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Foto: WAZ
Tausende Jugendliche schrieben ihm Fragen, die sie sich nicht trauten, ihren Eltern zu stellen. Dr. Sommer klärte Deutschlands Jugend auf, als das Thema Sexualität noch weitgehend tabu war. In der Nacht zu Freitag ist Martin Goldstein, der bei Bravo Dr. Sommer war, gestorben.

Kaarst. 

Er war viele Jahre Deutschlands bekanntester Mediziner, war der Arzt, dem Teenager vertrauten. Unter dem Pseudonym Dr. Sommer wurde Dr. Martin Goldstein zum Aufklärer der Jugend, ohne selbst je aufgeklärt worden zu sein. In der Nacht zu Freitag ist der Kaarster Psychotherapeut, Autor und Sexualaufklärer im Alter von 85 Jahren in Düsseldorf gestorben.

Sein Leben vor der Zeit als Bravo-Aufklärer hat er in Gesprächen meist nur kurz umrissen. Sechs Jahre ist er, als die Nazis in Deutschland die Macht übernehmen, ihn als „Mischling 1. Grades“ einstufen und ihn von der Schule jagen. „Angst hatte ich vor der Gestapo, nicht vor dem ersten Geschlechtsverkehr“, hat er seine Jugendjahre später beschrieben. Doch Goldstein überlebt, studiert nach dem Krieg Medizin, landet aber dann in der christlichen Jugendarbeit.

Dr. Sommer ist erschrocken, wie wenig Jugendliche über Sex wissen

In amtlichem Auftrag erstellt er eine Studie über den Stand der Sexualaufklärung in Deutschland. Das Ergebnis erschreckt den gebürtigen Bielefelder so sehr, dass er selbst ein Buch darüber schreibt. „In ganz einfachen Worten.“ Wahrscheinlich wird „Anders als bei Schmetterlingen“ gerade deshalb ein Erfolg und die „Bravo“ auf ihn aufmerksam.

Die Teenagerpostille tut sich damals noch schwer mit dem Thema Aufklärung. Im „Knigge für Verliebte“ empfiehlt ein gewisser Dr. Christoph Vollmer kalte Duschen gegen Onanie. Dementsprechend gering ist die Zahl der Anfragen, die eingeht.

Seinen eigenen Namen will er nicht verwenden, um seine Praxis zu schützen

Das ändert sich, als Goldstein die Beratung übernimmt. Weil er eine Praxis betreibt, will er nicht unter eigenem Namen beraten. „Sprechstunde bei Dr. Jochen Sommer“ heißt deshalb die Rubrik, die er einführt. Dort wird kein Zeigefinger erhoben, nicht gemahnt, nicht gewertet. Es wird auch nicht nur zugehört. „Wir haben gelauscht“, hat es Goldstein in einem seiner letzten Interviews mit dieser Zeitung gesagt. Nichts ist tabu, kein Problem zu profan, manche Lösung provokant.

Binnen kürzester Zeit schwillt die Zahl der Anfragen auf 5000 Briefe pro Monat an. Viel zu viele, um sie zu veröffentlichen und „allein nicht zu bewältigen“. Also werden neben Düsseldorf auch in München Teams aus Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeitern zusammengestellt und 150 Musterbriefe entwickelt. Für die Sorge um zu kleine Brüste, verkrümmte Penisse und als Antwort auf die Frage. „Kann ich durch Petting schwanger werden?“ „So konnten wir jede Anfrage persönlich beantworten.“

Dr. Sommer klärt so realitätsnah auf, dass Hefte auf dem Index landen

Später informiert neben Dr. Sommer auch Dr. Alexander Korff – ebenfalls ein Pseudonym für Goldstein. Anhand von echten Beispielen wird in langen Geschichten aufgeklärt. Manchmal so gewagt, dass die Hefte indiziert werden. 1984 bekommt die „Bravo“ einen neuen Chef. Er lässt auch andere Experten unter dem Namen Dr. Sommer schreiben. Goldstein ist sauer und geht. Die Rubrik bleibt.

Nach seiner Zeit als „Briefkastenonkel“ arbeitete der Westfale bis zum Jahr 2000 in seiner eigenen Praxis als Therapeut. Zum seinen Nachfolgern im Dr. Sommer-Team wollte er sich in all den Jahren nur ungern äußern. „Fachlich richtig, aber nicht mein Stil.“ Weniger zurückhaltend hat er im Alter seine eigene Arbeit beurteilt: „Flickwerk mit falschen Ansätzen.“

Die sexuelle Aufklärung von Jugendlichen aber, die war für ihn auch im Zeitalter der Internets „so wichtig wie vor 40 Jahren“. „Die Teenager kennen tausend Liebestechniken. Doch in einer Beziehung nutzen sie ihnen wenig.“ Da könne auch das Internet nicht helfen. Im weltweiten Datennetz sei zwar alles zu sehen, und viele würden zuhören. „Aber keiner lauscht.“