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Der Tag, als Pascal verschwand

Der Tag, als Pascal verschwand

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Missbraucht und getötet — seit zehn Jahren fehlt von dem Jungen jede Spur. Was geschah in der Tosa-Klause?

Essen/Saarbrücken. 

Gestern haben sie Kerzen aufgestellt, sind in einem Schweigemarsch durch den Saarbrücker Stadtteil Burbach gezogen. Genau zehn Jahre, nachdem der damals fünfjährige Pascal verschwand, wollten sie ein Zeichen setzen. „Die Erinnerung lässt die Hoffnung am Leben, dass etwas aufgedeckt wird“, sagt Esther Fehrer, die Pflegemutter von Pascals Freund Kevin, die Frau, die von sich behauptet: „Ich habe damals den Fall ins Rollen gebracht.“

Rückblende: Nach einem Kirmesbesuch am 30. September 2001 kehrt Pascal nicht nach Hause zurück. Im Herbst präsentiert die Polizei die erste potenzielle Täterin: Die 18-jährige Stiefschwester, eine Tochter aus erster Ehe des alkoholkranken Vaters, soll Pascal erschlagen haben. Der Verdacht lässt sich nicht beweisen. Die Polizei zunächst tappt im Dunkeln.

In die Tosa-Klause gelockt

12 lange Monate der Ungewissheit später vertraut Kevin seiner Pflegemutter an, er sei vergewaltigt worden. In der Kneipe seiner leiblichen Mutter, einer heruntergekommenen Spelunke in Burbach, in einem Hinterzimmer ohne Fenster. Für die Ermittler scheint das der Durchbruch zu sein. Sie sind sich sicher, dass Pascal am Tag seines Verschwindens in diese „Tosa-Klause“ gelockt, dort von vier Männern brutal vergewaltigt und anschließend von Kevins Mutter erstickt wurde. Die Wirtin der Kneipe Christa W., Kevins leibliche Mutter Andrea M. und weitere Stammgäste der „Tosa-Klause“ kommen in Untersuchungshaft. Einer der Verdächtigen, ein geistig zurückgebliebener Mann, gesteht den Missbrauch an den beiden Jungen, wird im Schnellverfahren zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Die Verdächtigen legen Geständnisse ab

Plötzlich reden die Verdächtigen. Sie gestehen, Pascal missbraucht und getötet zu haben. Andrea M. will das schreiende Kind auf eine Matratze gedrückt haben, bis er nicht mehr atmete. Anschließend wollen sie das Kind in einen Müllsack gesteckt und in eine Kiesgrube – oder eine Mülldeponie – geworfen haben. Die Ermittler überprüfen die Aussagen, finden aber kein Kind, keine Blut- oder DNA-Spuren auf der Matratze.

Doch die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen 13 Verdächtige. Am 20. September 2004 beginnt der wohl spektakulärste Prozess in der deutschen Rechtsgeschichte – in einem Mordfall ohne Leiche. 150 Prozesstage, drei Jahre und 300 Zeugenaussagen später bricht die Anklage zusammen. Die Verdächtigen verstricken sich in Widersprüche, die Polizei wird bezichtigt, Druck ausgeübt zu haben, um Geständnisse zu bekommen. Den Behörden wird Vertuschung vorgeworfen. Sie sollen schon lange von Missbrauchs-Vorwürfen im Umfeld der „Tosa-Klause“ gewusst haben. Tonbänder mit den Missbrauchsvorwürfen Kevins verschwinden auf dem Weg ins Gericht.

Bundesgerichtshof bestätigt die Freisprüche

Das Bild, das Staatsanwalt Josef Pattar von den Angeklagten zeichnet, ist bedrückend: Die intelligente Kneipenwirtin Christa W., die „Spinne im Netz“, macht die geistig meist minderbemittelten Gäste finanziell und emotional von sich abhängig und anschließend zu asozialen Kinderschändern. Und dann, am 31. August 2006, passiert der Gau: Andrea M., die Hauptbelastungszeugin, widerruft ihr Geständnis. Im September werden die Angeklagten freigesprochen. „Der Verdacht bleibt“, sagt Richter Ulrich Chudoba in der Begründung, „aber auf Verdacht hin darf niemand verurteilt werden.“ 2009 bestätigte der Bundesgerichtshof das Urteil. Für die Staatsanwaltschaft ist der Fall abgeschlossen. „Es gibt Sachverhalte, die mit Mitteln der Strafjustiz nicht aufzuklären sind“, erklärte Thomas Reinhardt, Pressestaatsanwalt in Saarbrücken, gestern.

Esther Fehrer und Sigrid Hübner, die Tante von Pascal und nach dem Tod der Eltern 2005 einzige Verwandte, lässt der ungeklärte Fall nicht ruhen. „Ich frage mich fast täglich: Wo ist er?“, sagt sie gestern. Sie fühle sich machtlos, hoffe, dass das mysteriöse Schicksal Pascals eines Tages doch noch aufgeklärt wird.