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Auf der Suche nach der geografischen Mitte Deutschlands

Auf der Suche nach der geografischen Mitte Deutschlands

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Flinsberg Foto: dpa
Wo liegt der geografische Mittelpunkt der Bundesrepublik? In Thüringen, Hessen oder Niedersachsen? 25 Jahre nach der Wiedervereinigung bleibt die Antwort umstritten.

Silberhausen/Niederdorla/Heiligenstadt. 

Die Mitte übt seit jeher besondere Anziehungskraft auf den Menschen aus. Aristoteles erhob sie zum Ideal menschlichen Handelns. Jules Verne begeisterte seine Leser mit einer Reise zum Mittelpunkt der Erde. Und der SPD-Politiker Gerhard Schröder wollte als „Kanzler der Mitte“ für jeden wählbar sein. Nur: wo ist sie, diese Mitte?

Was bei Jules Verne noch eindeutig ist, wird beim Mittelpunkt der Bundesrepublik ungleich schwieriger. Wissenschaftler kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen – und eine Handvoll Gemeinden in Thüringen, Hessen und Niedersachsen beanspruchen einen begehrten Titel jeweils für sich.

Es ist grau an den Orten, wo man das Herz eines Landes vermutet. Trostlos wirkende Felder verlieren sich in Flinsberg in Nordthüringen trübe im kühlen Nebel. Flinsberg ist ein Ortsteil von Heiligenstadt. Hier sei der Mittelpunkt der Bundesrepublik, sagen die Einheimischen. Ein Mann humpelt die einsame Straße hinab: „Ab und zu kommt ein Reisebus vorbei, aber sonst“ – er zuckt mit den Schultern. Kann das hier wirklich Deutschlands Innerstes sein?

Ergebnisse unterscheiden sich je nach Mess- oder Rechenmethode

26 Kilometer entfernt in Niederdorla schallt der Verkehrslärm einer nahen Straße zu einer Kaiserlinde. Sie steht auf Deutschlands mittlerem Längen- und Breitengrad und wurde vor 25 Jahren gepflanzt. Damals, als aus den zwei Deutschlands eines wurde – und aus den Mittelpunkten in DDR und BRD, nun ja, ein paar mehr.

In Niederdorla, das als erstes Dorf den Titel „Mittelpunkt“ trug, zweifeln die etwas mehr als 1000 Einwohner nicht, wo sie sich befinden. Im Zentrum Deutschlands natürlich! Matthias Stollberg, der Geschäftsleiter eines Museums, das am Mittelpunkt steht, ist aber diplomatisch: „Die anderen Punkte haben auch ihre Berechtigung“, sagt er. Doch Niederdorla sei schöner – und schon für die Germanen zentral gewesen: Dutzende Menschen seien hier in Zeremonien geopfert worden.

Die Frage danach, wo dieses Land seine Mitte hat, ist auch ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung ungeklärt. Je nach Mess-, Rechen-, oder Bastelmethode nämlich unterscheiden sich die Ergebnisse. Existiert denn so etwas wie ein Königsweg? „Den gibt es nicht“, erklärt Thomas Gernhardt. Für den Dezernatsleiter der Landesvermessung Brandenburg haben die verschiedenen Methoden die gleiche Daseinsberechtigung. „Letztlich bleibt die Frage des Mittelpunkts immer eine Frage des Standpunkts.“

Die Silberhausener wollen vom Mittelpunkt nichts wissen

Weiter auf kleinen Straßen über Hügel und Äcker. Bis zu einem Dorf, dessen Bewohner nichts von ihrem Glück wissen. Denn auch hier, zwischen Fachwerk und Kopfsteinpflaster, lauert ein Mittelpunkt. Eigentlich eher ein Schwerpunkt: Der ehemalige Lehrobermeister Norbert Glöckner balancierte dafür eine Karte des Staatsgebietes auf einer Nadelspitze – und stach dabei in Silberhausen.

Die Menschen auf der Straße sind scheu. Vom Mittelpunkt wollen sie hier nichts wissen. Sogar der Bürgermeister ist kein Lokalpatriot. Ja, Silberhausen sei Mittelpunkt: „Aber was heißt schon „der Wahre“?“. Andere Dorfbewohner erinnern sich schließlich an einen Markierungsstein auf einem Feldweg. Neben einem Grabsteinverkauf.

Steinmetz Michael Spitzenberg freut sich diebisch, als er das hört. „Das hab ich lakonischerweise erzählt“, sagt der Mann mit der grün-weißen Bommelmütze auf dem Kopf. Und die Einheimischen hätten es ihm auch noch geglaubt. Ein Dorfmythos.

Überdimensionierte Nadel soll die Mitte symbolisieren

Zurück in Flinsberg. Ute Althaus weiß, wie viel Potenzial in einem Mittelpunkt steckt. „Wir wollen das als Alleinstellungsmerkmal ausbauen“. Die stellvertretende Bürgermeisterin stutzt. „Also als Merkmal“, schiebt sie hinterher. Bald werde eine überdimensionierte Nadel auf einem Hügel Deutschlands Mitte symbolisieren. „Da guckt man schön ins Land rein“. Dies werde die Touristenzahl steigern.

Andere Berechnungen sehen eine solche Nadel allerdings nicht in Thüringen, sondern vielmehr im niedersächsischen Krebeck – hier wäre dann Deutschlands Innerstes, wenn man jegliche Hügel und Berge wie Falten in einem Hemd glattziehen würde. Besse in Hessen dagegen ist Mittelpunkt, weil sich hier die Linien vom nördlichsten zum südlichsten und vom östlichsten zum westlichsten Punkt des Landes schneiden.

Die Wartburg als deutscher Mittelpunkt?

Und dann gibt es da noch die falsche Mitte: Landstreit besitzt nur eine Straße gleichen Namens, an der ein paar Häuser stehen. Dieser Ort war selbst den Vermessern zu trist, erzählt Burkhard Happ, der Deutschland hobbymäßig in 90.000 Bildpunkte zerlegte und seinen Computer den zentralsten Pixel errechnen ließ – Landstreit.

Von dort aus könne man einen Ort sehen, der eng mit der deutschen Geschichte verwoben ist, sagt der Physiker. „Auf der Wartburg ist 1817 eines der ersten Male die schwarz-rot-goldene Fahne gezeigt worden“. Was liegt da näher, als Geografie und Historie zu vereinen und die Burg als deutschen Mittelpunkt zu proklamieren?

173 Jahre dauerte es: Der Mittelpunkt Deutschlands wanderte mit jedem Krieg, mit jeder neuen Grenzziehung, um schließlich mit einer Keimzelle des deutschen Nationalstaats zu verschmelzen. Schicksal? Happ lacht. Wohl eher ein Messfehler. Die Karte, die er damals verwendete, sei „so ne Demo-Version“ gewesen. Ob die hundertprozentig genau gewesen sei, habe er nicht verfolgt. (dpa)