Veröffentlicht inPolitik

Wenn Lehrer weinen und keiner mehr was lernt

Wenn Lehrer weinen und keiner mehr was lernt

0025728673-0055168732.JPG
Foto: imago stock&people

Essen. Aggressive, verwahrloste Kinder machen an vielen Schulen Unterricht unmöglich. Beinahe noch schwerer zu ertragen ist das völlige Desinteresse vieler Eltern am Lernerfolg ihres Nachwuchses. Ein deprimierender Frontbericht.

Forum

  • NRW-Bildungspolitk – zwischen Lob und Tadel

Diskutieren Sie mit anderen DerWesten-Lesern

Der Montag ist der schlimmste Tag. Dann hängen sie, unfähig zuzuhören, auf ihren Stühlen. Manche schlafen auch. Glotze, Alkohol – exzessiv konsumiert – bleiben nicht folgenlos. Viele Schüler dieser achten Klasse haben nicht gefrühstückt, an Hausaufgaben ist gar nicht zu denken. Einige sind in Jogginghose in den Unterricht gekommen, in der sie wahrscheinlich auch die Nacht verbracht haben. Ihr Blick ist ausdruckslos, stumpf. „Und denen sollst du was beibringen”, sagt die 50-jährige Deutschlehrerin einer Hauptschule im Kreis Unna.

„Von dir lass ich mir gar nichts sagen“

Ihr Traumjob von einst ist Schwerstarbeit geworden. Denn auch diese Lehrerin verzweifelt nicht nur daran, dass sie es immer häufiger mit lernunfähigen Jugendlichen zu tun hat. Dass sie immer wieder beschimpft und bedroht wird, macht ihr ebenfalls zu schaffen. So kann es sein, dass ihre Ermahnung an einen jungen, sie um einen halben Kopf überragenden Halbstarken, doch endlich mal den Mund zu halten, heftige Reaktionen auslöst. ,,Du alte F…, von dir lass‘ ich mir gar nichts sagen”, kriegt sie zu hören oder: ,,Alte, pass auf, was du sagst.”

Es sind Jungen, die sich schon mal symbolisch die Hose runterziehen und Selbstbefriedigung andeuten. ,,So was ist Alltag. Die anderen Schüler zucken nicht mal. Sie warten ab, was passiert. Wie im Fernsehen. Ich versuche immer, mich nicht darauf einzulassen. Ich weiß, dass ich vorgeführt werden soll. Aber es ist nicht leicht, die Nerven zu behalten”, gibt die Frau zu. Sie sagt auch, dass sie fast mal die Beherrschung verloren hätte. Eine Schülerin hatte versucht, den Kopf einer Mitschülerin in die Kloschüssel zu drücken. „Da musst du aufpassen, dass dir die Hand nicht ausrutscht. Aber dann hast du als Lehrerin ein echtes Problem.” Das eigentliche Problem seien allerdings die Eltern.

15 Minuten Unterricht pro Stunde „sind viel”

Das findet auch eine Dortmunder Realschullehrerin: „Die Eltern interessiert es häufig nicht, was ihre Kinder machen. Ob sie die Schule schaffen oder den Unterricht torpedieren.” Dabei sind Eltern, die sich komplett verweigern, nur die eine Seite. Die andere sind Väter und Mütter, die bei Problemen mit ihren Kindern aggressiv reagieren und Lehrer als Versager beschimpfen. Obwohl die Mittvierzigerin immer noch gerne Lehrerin ist, räumt sie ein: „Die Arbeit laugt dich vollkommen aus.”

Die Realschule sei nicht mehr die Insel der Glückseligen. Grund: Inzwischen habe man viele Hauptschüler aufgenommen. Das Lernniveau sei gesunken. „Du bist hauptsächlich damit beschäftigt, den Jugendlichen Disziplin beizubringen.” 15 Minuten Unterricht pro Stunde „sind schon viel”. Dass einige Schüler das Beruhigungsmittel Ritalin schlucken, stört sie nicht. „Ohne das Mittel springen sie hier nur rum und stören.”

An Disziplin ist in dieser Klasse einer Bochumer Förderschule gar nicht zu denken: Dem Lehrer seines Vertrauens hat Markus erzählt, dass der neue Freund der Mutter ihn wieder geschlagen hat. Sein Tischnachbar Dennis konnte sich schon als kleines Kind nicht dem Porno-Konsum seiner Eltern entziehen. In der Zwei-Zimmer-Wohnung ging es rund um die Uhr zur Sache. Ihre Klassenkameradin Nadine ist nicht die Hellste, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat.

Dennis, Markus und Nadine sehen von außen betrachtet wie normale Jugendliche aus, in Wirklichkeit sind sie lernbehindert und besuchen eine Förderschule. Sie als Schulverweigerer zu bezeichnen, fiele ihrem Lehrer im Leben nicht ein. „Die haben schon so viel mitgemacht, die können nicht mehr”, sagt er. Die meisten Eltern hier haben keinen festen oder gar keinen Job. Sie leben in sozialen Brennpunkten und in unvollständigen Familien. Die Kinder wachsen in einer Realität auf, die ihren Bedürfnissen nicht gerecht wird. Eltern fehlt aus vielen Gründen die Kraft zum Erziehen. „Die Kinder bleiben auf der Strecke”, bedauert ihr Lehrer.

Beim Schulpsychologen sitzen jetzt die Lehrer

Die 270 Schulpsychologen in NRW, die sich eigentlich um das Wohlergehen der Schüler kümmern sollten, werden immer häufiger von Lehrern aufgesucht. Von jenen, die nicht damit klar kommen, in mehrere Rollen schlüpfen zu müssen. Unterweiser, Elternersatz, Sozialarbeiter und Psychologe in einem zu sein, hat ihnen niemand beigebracht. ,,Hier sitzen Anfänger, aber auch gestandene Lehrer, die am Ende sind. Sie weinen, sie sehen häufig keinen Ausweg”, sagt Arnold Everts, Vorsitzender des Landesverbandes für Schulpsychologie in NRW.

Das Problem beim Namen zu nennen, fällt bei sinkenden Schülerzahlen nicht nur Schulrektoren schwer. Auch Lehrer behalten die Szenen, die sich hinter der geschlossenen Klassentür abspielen, oft für sich. Dorothea Schäfer, stellvertretende Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW in NRW, ruft die Betroffenen auf, „gemeinsam eine Lösung zu finden”. Schließlich mache dieser Dauerkonflikt krank. Und den Kindern nütze das Totschweigen auch nichts.