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Scham hält viele Rentner vom Gang zur Essener Tafel ab

Scham hält viele Rentner vom Gang zur Essener Tafel ab

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Foto: Nora Noll
Immer mehr alte Menschen sind auf die Lebensmittel-Spenden der Essener Tafel angewiesen. Doch oft schämen sie sich, Hilfe anzunehmen.

Essen. 

Ihre Finger mit den pink-lackierten Nägeln umklammern den Griff der Plastiktüte, die 67-jährige Galina Kowitz van Bonn legt großen Wert auf ihr Aussehen. Auch, wenn sie vor dem Eingang der Essener Tafel Schlange steht.

Hinter der rot-weißen Absperrkette sammeln sich immer mehr Leute. Im Halbstundentakt lässt ein Mitarbeiter eine neue Gruppe in den Wasserturm an der Steeler Straße im Südostviertel. Weiße Plastikkarten werden in die Höhe gehalten, mit Anmeldenummer und Termin für die Essensausgabe. Hinter jeder Karte ein Mensch. Eine junge Frau mit Baby im Arm. Ein älterer Herr mit Gehstock. Ein dunkelhäutiger Mann am Handy. Eine Frau mit Kopftuch und karierter Einkaufstasche. Dazwischen Galina.

Ehemalige Journalistin aus Russland schämt sich

Galina Kowitz van Bonn ist seit 29 Jahren in Deutschland. Davor hat sie in Russland gelebt, „als Journalistin, wie Sie“. In Deutschland findet sie einen Job in einer Großküche, gründet eine Familie. Heute ist sie geschieden und in Rente. Vieles ist für sie zu teuer, seit sie nur von ihrer kleinen Rente mit der Grundsicherung lebt. Das Angebot der Tafel ist eine wichtige Hilfe. Und trotzdem sagt sie: „Ich schäme mich.“

Jörg Sartor, Vorsitzender der Essener Tafel, lehnt sich zurück, faltet die Hände vor dem Bauch. Ständig kommen andere Mitarbeiter, rollen Kisten ins Büro, das Telefon klingelt alle fünf Minuten – aber Sartor bleibt gelassen. Seit elf Jahren ist der 60-Jährige in Rente, vom Bergbau in den Vorruhestand, seitdem engagiert er sich bei der Tafel. „Was wollen Sie mit 49 auf der Couch?“, fragt er. Er vermutet, dass es einem Großteil der von Armut betroffenen Rentner schwerfällt, zur Tafel zu kommen: „Besonders die Nachkriegs-Generation hat Probleme damit, soziale Einrichtungen zu nutzen.“ Viele tauchten aus Stolz gar nicht erst bei der Essensausgabe auf.

Hartz IV, Tafel, selbstgefangener Tisch

Jutta Motzek geht zur Tafel, seit sechs Jahren – und sie schämt sich nicht: „Ich kann darüber reden, das muss man lernen“, sagt sie. Nach mehreren Bandscheibenvorfällen könne sie schon lange nicht mehr arbeiten, aber mit 59 auch noch keine Rente beziehen, trotz Rollator und Sauerstoffgerät. Also lebt sie von Hartz IV, der Tafel und selbstgefangenem Fisch, einmal die Woche geht sie Angeln. Die kleine Frau mit Rollator versinkt fast in ihrem schwarzen Anorak, aber wenn sie redet, wird klar, dass sie sich nicht unterkriegen lässt: „Ich leb‘ nur einmal, also muss ich mich wehren.“

Von seinem Büro aus bekommt Sartor Veränderungen mit: „Wir wissen, dass Altersarmut gravierender wird.“ Aber mittwochs bei der wöchentlichen Anmeldung kämen trotzdem kaum Rentner, dafür meist junge Ausländer. „Die Oma kommt nicht mehr, weil so viele Männer vor der Tür stehen.“

Deshalb schafft Sartor nun bewusst Vorteile für die ältere Kundschaft. Als ersten Schritt hat er vor drei Monaten für über 63-Jährige die obligatorische Tafel-Pause abgeschafft. Zuvor musste jeder Tafelgänger regelmäßig ein Jahr aussetzen. „Wir müssen versuchen, die Waage im Gleichgewicht zu halten.“ Die Waage, die in seinen Augen stark in Richtung der alleinstehenden unter-30-Jährigen bewegte. Für diese gilt nun auch eine neue Regel: Drei Monate Tafel mit einem Jahr Abstand dazwischen – mehr nicht. Ist das gerecht? Sartor weiß ja, dass ihn die Tafel-Organisatoren anderer Städte kritisch beäugen. Aber er betont: „Uns hat hier keiner was zu sagen, kein Sozialdezernent oder Bürgermeister.“

Ein Euro Spende für die Lebensmittel

Galina weiß nichts von diesen Regelungen, Abwägungen. Sie weiß: Jeden Montag steht sie neben nicht-deutschen Männern in der Schlange, die manchmal drängeln und schubsen. Ihr Freund Erwin, der sie heute begleitet, behauptet: „Hier werden Flüchtlinge versorgt, die in den Heimen schon Essen bekommen.“ In Wirklichkeit sind die Voraussetzungen für die Anmeldung bei der Essener Tafel streng: Nur wer mindestens ein Jahr in der Stadt wohnt und von Wohngeld, Hartz IV oder Grundsicherung lebt, darf kommen. Sprich: Nur anerkannte Flüchtlinge, die vom Jobcenter Hilfe erhalten, dürfen hier einmal die Woche einige Lebensmittel mitnehmen. Gegen einen Euro Spende – wie alle anderen auch.

Stipendiaten der Adenauer-Stiftung schreiben über Essen

Dieser Artikel ist Teil der Reihe „Essen im Wandel – ein Blick von außen“. Sie wird von Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung gemeinsam mit der Essener Lokalredaktion gestaltet. Elf junge Journalisten, die aus ganz Deutschland kommen und bereits erste Berufserfahrungen gesammelt haben, verfassen in den nächsten Tagen und Wochen Berichte und Reportagen über Themen aus unserer Stadt. Die Redaktion wünscht viel Spaß beim Lesen!