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Wie die afghanische Armee Soldaten „produziert“

Wie die afghanische Armee neue Soldaten „produziert“

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Foto: NRZ
Im Trainingszentrum der afghanischen Armee nahe Kabul werden 7200 Kämpfer gleichzeitig ausgebildet. Jede Woche beenden 1500 ihre Ausbildung. Für die meisten dauert sie gerade einmal neun Wochen. Denn die Zeit drängt. Bald müssen sie Verantwortung übernehmen.

Kabul. 

General Aminullah Patyani hat viele Kriege erlebt und er stand immer auf der Seite der Verlierer. In den 1980er Jahren kämpfte er an der Seite der Sowjets gegen die Mudschaheddin, in den 1990ern gemeinsam mit seinen einstigen Feinden gegen die Taliban. Heute kämpft Patyani wieder, und dieser wohl letzte Kampf des 64-Jährigen wird entscheiden, ob Afghanistan in Zukunft ein sicherer Ort ist, oder ob das Land zerfällt. Der General befehligt das Trainingszentrum für die afghanische Armee nahe der Hauptstadt Kabul. Hier werden die Männer und Frauen ausgebildet, die nach dem Rückzug der westlichen Kampftruppen Ende 2014 für die Sicherheit der 29 Millionen Menschen in dem Land am Hindukusch sorgen sollen.

„Wir produzieren hier Soldaten“, sagt Colonel Peter Williams, der kanadische Befehlshaber der multinationalen Truppen, die im „KMTC“ als Berater eingesetzt sind. Produzieren ist wohl der richtige Ausdruck. 7200 Soldaten werden hier gleichzeitig trainiert, jede Woche beenden 1500 ihre Ausbildung. Für die meisten dauert sie gerade einmal neun Wochen. Sie müssen zügig fertig werden. In zwei Jahren trägt die afghanische Regierung die Verantwortung für das ganze Land. So hat es die internationale Staatengemeinschaft beschlossen. So wird es jetzt umgesetzt. Deswegen beraten die ausländischen Soldaten hier im Trainingszentrum nur noch, deswegen ist die afghanische Armee verantwortlich für die Ausbildung.

„Wenn ich aufhöre, habe ich keine Arbeit mehr“

Der Schießstand liegt am Rande des Ausbildungszentrums, am Fuß der Kabuler Berge. Schotter, Staub, flirrende Hitze. Die Männer, die hier schießen, wirken klein und schmächtig neben den bulligen kanadischen Soldaten, die die Übungen überwachen. Imamadi Ramazani hat sein M16 geschultert und trägt eine Schießscheibe wie einen Schutzschild vor sich her. Über seinem schmalen Gesicht thront ein großer Helm. Er hat einen guten Job gemacht. Fast alles ins Schwarze.

Früher hat er Vögel gejagt, in seinem Dorf im Norden an der Grenze zu Tadschikistan. Warum er Soldat geworden ist? „Ich möchte mein Land unterstützen“, sagt der 21-Jährige mit einem scheuen Blick zu seinem Ausbilder. Angst vorm Kämpfen hat er nicht, sagt er, und natürlich möchte er nach seiner dreijährigen Dienstzeit bei der Armee bleiben. „Wenn ich aufhöre, habe ich keine Arbeit mehr.“

In Afghanistan sind noch immer über 40 Prozent der Menschen arbeitslos, in den Dörfern liegt die Quote wesentlich höher. Ramazanis Vater ist gestorben, er hat vier Brüder, vier Schwestern und ist frisch verheiratet. Irgendjemand muss die Familie ernähren. 250 Dollar wird er verdienen, wenn er die Grundausbildung durchlaufen hat und zu einer Einheit irgendwo im Land verlegt wird. Wie Ramazani sind die meisten seiner Kameraden einfache Männer. Neun von zehn Rekruten sind Analphabeten. Das kann sich eine moderne Armee nicht leisten, weswegen den Männern ansatzweise schreiben, lesen und rechnen beigebracht wird.

„Sie werden bis zum Ende kämpfen“

„Unsere Soldaten werden besser bezahlt als die normale Bevölkerung“, sagt General Patyani. „Wenn Waffen, Ausrüstung, Essen und Bezahlung gut sind, werden sie bis zum Ende kämpfen.“ Das werden Ramzani und seine Kameraden wohl müssen. 3000 Angriffe und Anschläge allein im Monat Mai, Aufständische und Selbstmordattentäter sickern täglich über die 2500 Kilometer lange und poröse Grenze aus Pakistan ins Land ein. Im Osten und Süden beherrschen die Taliban ganze Landstriche. Das ist afghanische Realität im Jahr elf nach der Invasion der westlichen Truppen.

Realität ist aber auch, dass sich vieles zum Besseren verändert hat. Sieben Millionen Kinder besuchen die Schule, etwa ein Drittel von ihnen Mädchen. Junge Leute kommen nach einer Ausbildung im Ausland zurück, um ihr Land aufzubauen. Frauen haben erheblich mehr Rechte als unter den Taliban. 4000 Kilometer Straßen sind im gesamten Land neu gebaut oder saniert worden, die Wirtschaft entwickelt sich vielerorts allmählich. Ein Symbol dafür sind die vielen Funktürme, die im ganzen Land stehen. Selbst in entlegenen Dörfern funktionieren Mobiltelefone, der größte Anbieter hat über sechs Millionen Kunden.

„Wir brauchen mehr Zeit“

Afghanistan im Jahr 2012, das ist aber auch die Situation in der Provinz Wardak, im Osten Kabuls, einer von vielen Unruheprovinzen. Dort, vor den Toren der afghanischen Hauptstadt, sind die radikalislamischen Aufständischen noch immer sehr aktiv, bedrohen Schulen, verüben Anschläge. „Unsere Armee ist in der Lage, die Aufständischen zu bekämpfen“, sagt Mohammed Ramazin, der Vorsitzende des Provinzrates, „aber wir brauchen eigentlich mehr Zeit und mehr Ausrüstung.“

Der Übergangsprozess gehe zu schnell. Sie verhandeln hier mit den lokalen Talibanführern, aber die Verhandlungen sind schwieriger geworden, seit der Westen angekündigt hat, sich aus dem Land zurückzuziehen. „Das hat die Moral der Aufständischen gestärkt“, sagt Ramazin. Während er spricht, explodiert wie zur Bestätigung in nur 300 Meter Entfernung eine selbst gebastelte Sprengladung. Es gibt keine Opfer, diesmal. Wenige Tage zuvor sind sechs US-Soldaten bei einer solchen Explosion in Wardak ums Leben gekommen.

General Patyani im Ausbildungslager in Kabul hat seine eigene Sicht von der Zukunft: „Es ist egal, wie lange wir kämpfen müssen. Am Ende steht der Frieden.“ Früher sei er gegen die Mudschaheddin zu Felde gezogen, heute seien viele dieser Kämpfer Offiziere unter ihm. „Und ich hoffe, dass ich auch bald mit ehemaligen Taliban an einem Tisch sitzen kann. Inschallah – so Gott will.“