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Heimkinder-Skandal – Jugendamtsleiter weist Vorwürfe zurück

Heimkinder-Skandal – Jugendamtsleiter weist Vorwürfe zurück

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Foto: Funke Foto Services
Die Leiter des Jugendamtes in Gelsenkirchen haben angeblich mit der Unterbringung von deutschen Heimkindern in Ungarn systematisch Kasse gemacht.

Gelsenkirchen. 

Besonders schwere Vorwürfe gegen den Leiter des Gelsenkirchener Jugendamtes, Alfons Wissmann, und seinen Stellvertreter, Thomas Frings, erhebt ein Bericht der ARD-Sendung „Monitor“. Demnach sollen die beiden Männer ihre Funktion an der Spitze des Jugendamtes ausgenutzt haben, um mit Kindern, die in staatlicher Obhut waren, Geld zu verdienen.

Wissmann und Frings sollen gezielt für eine Überbelegung des Gelsenkirchener Kinderheims St. Josef gesorgt haben, um Kinder von dort weiter in ein „Jugendheim“ nach Ungarn zu schicken. Besonders pikant: Der Träger der ungarischen Einrichtung ist die Firma „Neustart“, die 2004 von Wissmann und Frings gegründet wurde.

Abmachung zwischen Jugendamtsleitung und Kinderheim

Nach ARD-Informationen soll es eine Abmachung zwischen dem Kinderheim St. Josef und den beiden Männern an der Spitze des Gelsenkirchener Jugendamtes gegeben haben. Durch die gezielte Überbelegung von St. Josef soll das Heim seine Einnahmen erhöht haben.

Im Gegenzug wurden von dort Kinder und Jugendliche in die ungarische Einrichtung weitervermittelt. 5500 Euro pro Kind und Monat soll der deutsche Staat dafür an die Neustart GmbH bezahlt haben.

Wissmann weist Vorwürfe zurück

Ein Mitarbeiter des ehemaligen Heims in Ungarn sagt, dass es keinerlei pädagogische Konzepte gegeben habe, die Kinder und Jugendlichen dort im Grunde nur abgestellt wurden. Man habe „einfach irgendwas mit den Kindern gemacht.“

Wissmann erklärte, es habe keine Vereinbarung mit St. Josef gegeben, dass er „für eine gute Auslastung des Kinderheims“ sorge und im Gegenzug Kinder nach Ungarn schicken werde. Außerdem belegten viele Jugendämter das Heim St. Josef.

Ein junger Mann, der selber aus Deutschland in die ungarische Einrichtung gebracht wurde, bestätigt, dass man sich kaum um die Jugendlichen gekümmert habe : „Wir konnten kiffen, das haben wir auch gemacht. Wenn wir nicht zur Schule wollten, konnten wir einfach weiter schlafen.“.

Jugendamtsleiter vom Dienst freigestellt

Gelsenkirchens Oberbürgermeister, Frank Baranowski (SPD), reagierte am Freitag mit „Fassungslosigkeit“ auf die Vorwürfe. „Die Angelegenheit muss lückenlos aufgeklärt werden. Dazu habe ich bereits die notwendigen Schritte eingeleitet“, so Baranowski. Die beiden Betroffenen wurden am Freitag bis auf weiteres von ihren Dienstpflichten freigestellt. Zur Prüfung der Vorwürfe greift die Stadt auf die Unterstützung eines Wirtschaftsprüfungsunternehmens zurück. Auch der Träger des St. Josef-Heimes, die St. Augustinus GmbH, und die zuständige Aufsichtsbehörde, den Landschaftsverband Westfalen Lippe wurden von Baranowski um Zusammenarbeit bei der Aufklärung gebeten. Eine erste Prüfung des Rechnungsprüfungsamts habe indes ergeben, dass die Stadt „keinerlei Maßnahmen der Firma Neustart veranlasst oder finanziert hat“. Am Montag kommen der Haupt-, Finanz-, Beteiligungs- und Personalausschuss zu einer Sondersitzung um 16 Uhr im Ratssaal des Hans-Sachs-Hauses zusammen, um die Politik umfassend über den Stand der Erkenntnisse zu informieren. Die Sitzung ist öffentlich.

Die Beschuldigten selber bestreiten laut Monitor die Vorwürfe. Ihre Anteile an der Firma Neustart haben Jugendamtsleiter Alfons Wissmann und sein Stellvertreter Thomas Frings mittlerweile abgegeben. Wissmann an seine Frau und Frings an seinen Bruder.

Weiterer Skandal in Dorsten

Mit der Methode „Kasse machen mit Kindern“ sind die beiden Gelsenkirchener aber offenbar nicht alleine. In dem Monitor-Bericht wird auch ein Fall aus Dorsten aufgedeckt. Dort arbeitet das Jugendamt mit der „Life GmbH“ aus Bochum. Sie kümmert sich im Namen der Stadt um die Unterbringung von Heimkindern im Ausland, wenn in Deutschland kein passendes Heim gefunden werden könne.

Wie „passend“ die vermeintliche Alternative in Ungarn ist, zeigt das Beispiel eines Elfjährigen. Der Junge wurde von „Life“ in die Obhut eines 64-jährigen Handwerkers gegeben, der offenbar keinerlei Qualifikation als Pädagoge hat. Auch zur Schule geht der Junge nicht. Stattdessen bekommt er vier Stunden Online-Unterricht pro Woche in einer so genannten Web-Schule. Fast 8000 Euro im Monat soll die Betreuung des Jungen in Ungarn kosten. Den Großteil des Geldes (7000 Euro) bekomme die Firma Life. 800 Euro gingen an die Web-Schule, die der Tochter des Life-Eigentümers gehört.

Für den Leiter des Jugendamtes Dorsten, Dietmar Gayk, scheint es jedenfalls keinen Grund zu geben, die Unterbringung der Kinder in Ungarn zu kontrollieren. Gegenüber Monitor sagte der Leiter des Amtes: „Wir haben vertragliche Vereinbarungen. So wie der Träger uns vertraut, dass wir monatlich die Zahlungen leisten, die ja nicht unerheblich sind, vertrauen wir auch dem Träger.“

So reagieren SPD, CDU und Grüne in Gelsenkirchen auf den Skandal 

Peter Tertocha, Fraktionsvorsitzender der Partei Die Grünen: „Wir fordern die Bildung eines kommunalen Untersuchungsausschusses. Einen Antrag für die nächste Ratssitzung haben wir am Freitag gestellt. Uns ist bewusst, dass die Gemeindeordnung einen solchen Untersuchungsausschuss nicht vorsieht. Es ist uns egal, welchen Namen das Gremium trägt, es geht um die Aufarbeitung.“

Wolfgang Heinberg, Fraktionsvorsitzender CDU: Die Vorwürfe müssen vollständig aufgeklärt werden. Wir wollen wissen, wie viele Kinder aktuell in Ungarn sind, wie viele da waren und was aus ihnen geworden ist. Die CDU hat eine Sondersitzung des Hauptauschusses mit dem für Kinder, Jugend und Familie beantragt. Außerdem müssen Bezirksregierung und Landesjugendamt in die Untersuchung eingeschaltet werden.“


Dr. Klaus Haertel, Fraktionsvorsitzender SPD: Für uns steht die lückenlose Aufklärung im Vordergrund. Auch wenn die Unschuldsvermutung gilt, halte ich die Vorwürfe für so gravierend, dass ich eine sofortige Freistellung der beiden Mitarbeiter erwarte. Außerdem erwarte ich vom Träger des Kinderheims St. Josef eine offene und vorbehaltlose Unterstützung der Stadt bei der Aufklärung der Vorwürfe.“ (mit dpa)

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels haben wir den Antrag der Grünen-Fraktion fälschlicherweise auf Sonntag datiert. Wir bitten um Entschuldigung.