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Schreikrampf und gelähmte Zunge – Pharmatests an Heimkindern

Schreikrampf und gelähmte Zunge – Pharmatests an Heimkindern

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Foto: Franz Sales Haus
  • Wissenschaftlerin hat bundesweit 50 Studien über Medikamentenversuche ausgewertet
  • Heimkinder sollen in den 50er- und 60er-Jahren für Pharmatests missbraucht worden sein
  • Franz-Sales-Haus in Essen kündigt Aufarbeitung der Vorwürfe an

Essen. 

Heimkinder aus NRW sollen in den 50er- und 60er-Jahren im großen Umfang Opfer von Medikamententests geworden sein. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsbericht der Krefelder Pharmazeutin Sylvia Wagner. Die Wissenschaftlerin hatte für ihre Doktorarbeit an der Uni Düsseldorf bundesweit 50 Studien von Pharma-Unternehmen ausgewertet, die solche Medikamententests belegten. Die Tests seien meist ohne Einwilligung der Eltern erfolgt und ohne Nutzen für die Kinder und Jugendlichen gewesen, sagte die Expertin. Sie spricht deshalb von „Menschenrechtsverletzungen“.

Laut einem Bericht des ARD-Politmagazins „Fakt“ sind in NRW mindestens drei Einrichtungen betroffen: das Franz-Sales-Haus in Essen, ein evangelisches Heim in Neu-Düsselthal und die Landesklinik für Jugendpsychiatrie Viersen-Süchteln. Der Bremer Arzneimittelexperte Gerd Glaeske verglich die Medikamentenversuche in dem Fernsehbeitrag mit „chemischer Gewalt“. Wagner geht davon aus, dass die umstrittenen Tests in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in Einrichtungen für Behinderte und der Jugendfürsorge und sogar in Säuglingsheimen durchgeführt worden seien.

Im Franz-Sales-Haus waren nach Erkenntnissen der Pharmazeutin 28 Kinder im Alter von fünf bis 13 Jahren betroffen. Beweise für Medikamentenversuche in Essen seien in den Archiven des Darmstädter Pharma-Konzerns Merck gefunden worden. Sie belegten „einen überproportional hohen“ Einsatz des Medikaments „Decentan“, das im Dezember 1957 auf den Markt kam und hauptsächlich bei Psychosen und Schizophrenie verwendet wurde.

Direktor des Franz-Sales-Hauses versprach, die damaligen Ereignisse aufklären zu wollen

Der Direktor des Franz-Sales-Hauses, Günter Oelscher, versprach am Mittwoch, die damaligen Ereignisse aufklären zu wollen: „Wir werden den Hinweisen der Firma Merck nachgehen und selbstverständlich Kontakt mit den betroffenen Bewohnern aufnehmen.“ Mit einem der Betroffenen sei dies bereits geschehen. Im eigenen Hause seien keine Hinweise auf Medikamententests gefunden worden. Oelscher: „Wir haben noch keine Gewissheit, dass die Vorwürfe stimmen.“

Die CDU-Landtagsfraktion bezeichnete die Vorwürfe am Mittwoch als „unfassbar“ und forderte einen Bericht der Landesregierung für die nächste Sitzung des Gesundheitsausschusses. Ein Merck-Sprecher wies darauf hin, dass das Unternehmen die Forschung der Pharmazeutin Sylvia Wagner von Anfang an unterstützt habe.

Schreikrämpfe und gelähmte Zungen

Es ist nur wenige Jahre her, da erschütterte ein Missbrauchsskandal das Franz-Sales-Haus in Essen. 2010 kam heraus, dass Heimzöglinge in den Fünfziger- und Sechzigerjahren sexuell missbraucht und Opfer von Gewalt ihrer Erzieher geworden waren. Jetzt ist das katholische Haus abermals in Verruf geraten: wegen angeblicher Medikamentenversuche Ende der Fünfzigerjahre.

Eine düstere Epoche, über der noch die langen Schatten der unbewältigten Nazizeit lagen. Als die Pharmazeutin Sylvia Wagner für ihre Doktorarbeit zum Thema Medikamentenmissbrauch an Kindern das Archiv des Pharmakonzerns Merck erforscht, fällt ihr ein Bericht des Essener Arztes Waldemar Strehl in die Hände – abgestempelt am 28. Januar 1958. Der Mediziner ist zehn Jahre lang – bis Mitte der Sechziger – leitender Arzt im Franz-Sales-Haus. Sein Doktorvater, ein gewisser Friedrich Haag, hatte sich während der Hitler-Barbarei als „Professor für Rassenhygiene und Rassenpflege“ hervorgetan.

„Dosierung um das Achtfache übertroffen“

Für Sylvia Wagner steht nach der Lektüre des Strehl-Berichts fest: „Auch im Franz-Sales-Haus sind Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen durchgeführt worden.“ Es ist ein Papier, das einem den Kehlkopf zuschnürt. Wagner zufolge listet der fürchterliche Doktor darin akkurat auf, was das Merck-Psychopharmaka „Decentan“ bei 28 Heimzöglingen anrichtete. Von Schreikämpfen ist die Rede und von gelähmten Zungen, von Nackensteifigkeit und Starrkrampf, von kalten Händen, Blickkrämpfen und unsicherem Gang.

Was der Forscherin sofort auffällt, sind die hohen Dosen, die der Heimarzt den Kindern verabreichte: „Strehl hat die von Merck empfohlene Dosierung zum Teil um das Achtfache übertroffen.“ Für sie ein klares Indiz dafür, dass hier ein Pharmatest durchgeführt wurde. Außerdem habe er für Decentan abwechselnd die Abkürzung der Versuchssubstanz T-57 verwendet.

Ungeklärte Fragen

Welche Verbindung zwischen Merck und Strehl bestand, ob der Arzt alleine handelte oder die Heimleitung informierte – das sind lauter ungeklärte Fragen, die auch Günter Oelscher, der Vorstandschef des Franz-Sales-Hauses, schnellstmöglich beantwortet haben möchte. 2010, beim Missbrauchsskandal, gehörte Oelscher zu den Aufklärern – ohne Rücksicht auf den Ruf des Hauses. Er betont: „Wir sind eine der wenigen Einrichtungen, die damals einen Fonds eingerichtet haben, um ehemalige Heimkinder, denen in unserem Haus Leid zugefügt wurde, zu entschädigen.“

Nach dem Bericht des Polit-Magazins „Fakt“ steht das Franz-Sales-Haus erneut am Pranger. Wieder wird Aufklärung verlangt und abermals beteuert Oelscher: „Das Franz-Sales-Haus ist weiterhin an einer Klärung der historischen Vorgänge interessiert.“ Am Mittwoch bestätigt es anhand von zwei Bewohnerakten, dass das Medikament „Decentan“ eingesetzt wurde. „Bei diesen Bewohnern ist dokumentiert, dass sie positiv auf die Behandlung mit Decentan angesprochen haben“, heißt es.

Tests auch in der Psychiatrie in Viersen

Und die Betroffenen? Nur einen von 28 hat man bisher ausfindig machen können: Anton Turinsky. Er kam 1955 – als Fünfjähriger – mit seinem Zwillingsbruder ins Essener Heim. Vor laufender Kamera erinnert er sich an die alltägliche Medikamentenausgabe. „Die Nonne kam mit einer Schachtel Tabletten. ‘Mund auf’ – der eine mehr, der andere weniger. Meistens waren das Kinder, die sehr unruhig waren, die nicht ruhig sitzen konnten.“

Auch der „Landschaftsverband Rheinland (LVR)“ sucht Betroffene, denn an seiner Jugendpsychiatrie in Viersen soll es ebenfalls Medikamententests gegeben haben. Allerdings sind die Namen der damaligen Bewohner nicht bekannt, sagt LVR-Sprecher Till Döring: „Diese Akten müssen eigentlich nicht aufgehoben werden.“ Döring bat frühere Insassen, sich zu melden. Die Studie in Viersen-Süchteln hieß „Dipiperon bei kindlichen Verhaltensstörungen“.

Dipiperon wird heute eingesetzt bei chronischen Psychosen.