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Santo André – Das vergessene Dorf rund um das „Campo Bahia“

Santo André – Das vergessene Dorf rund um das „Campo Bahia“

Die DFB-Elf bezog vor einem Jahr ihr WM-Quartier im „Campo Bahia“ in Santo André. Für die Dorfbewohner hat sich seither allerdings nur wenig verändert.

Berlin/Santo André. 

Abblätternde Farbe und ein Trauma erinnern an die Deutschen. Die Laternenmasten auf der sandigen Dorfstraße von Santo André sind noch immer in Schwarz, Rot und Gold bemalt. Auf einem davon hat ein Bewohner quer über die Flagge „7:1“ geschmiert. Die unwirklich hohe Halbfinalniederlage der brasilianischen Nationalelf gegen die deutsche bei der WM im eigenen Land 2014 tut weiter weh. Aber sonst ist in dem 800-Einwohner-Örtchen im brasilianischen Bundesstaat Bahia kaum noch zu sehen, dass eine Mannschaft hier fünf Wochen lang wohnte, die Weltmeister wurde.

Vor einem Jahr landeten Bundestrainer Joachim Löw mit seinem Team in Santo André. Der teure Mannschaftsbus blieb beim Herunterfahren von der Fähre über den Rio Joao de Tiba stecken. Wie eine riesige Raupe, die sich durch eine zu kleine Öffnung drückt, sah das aus. Das entsprach den Maßstäben der beiden Welten, die hier aufeinander trafen. Aber es wurde eine Erfolgsgeschichte für den Deutschen Fußball-Bund (DFB): Als erstes europäisches Team gewann Deutschland den WM-Pokal in Südamerika. Und Santo André reiht sich seitdem ein in die Galerie der mythischen Orte, an denen der Geist für die deutschen WM-Titel entstand: Spiez in der Schweiz 1954, Malente 74 und Erba in Italien 90.

Auch nach der WM noch viele ungelöste Probleme

Vor der Ankunft der Deutschen war das Fischerdorf am Atlantik zwar ein Tropenparadies, aber eines mit vielen Problemen: Das Leitungswasser war braun, einen Polizisten gab es nicht, und in der Nebensaison, wenn die Touristen abgereist waren, standen viele Bewohner ohne Arbeit da. Dass der DFB ihr Dorf als WM-Quartier wählte, davon hatten sich die Einheimischen über das Turnier hinaus eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erhofft. Diese WM sollte auch für Santo André eine Erfolgsgeschichte werden.

Telefoniert man heute, ein Jahr danach, mit Dorfbewohnern, dann erfährt man allerdings, dass viele Hoffnungen unerfüllt geblieben sind: „Santo André ist in seinen Dornröschenschlaf zurückgefallen“, sagt Waltraud Busch, eine Deutsche. Sie lebt mit ihrem Mann seit Jahren im Ort und kümmert sich um soziale Projekte. Daher weiß sie: „Die Themen, die nach der WM gelöst werden sollten wie Mülltrennung, bessere Wasserqualität und das Reparieren der Straße wurden überhaupt nicht gelöst.“ Die Menschen seien größtenteils wieder auf sich allein gestellt.

„Es ist, als wären die Deutschen nie da gewesen“

Es gibt Leute im Ort, die das sogar noch drastischer ausdrücken: „Nichts hat sich geändert. Santo André wurde benutzt, jetzt kümmert sich niemand mehr darum. Man hat uns vergessen“, sagt Thiago Paixao. Der 25-Jährige arbeitet als Koch in einem Hotel in der Mitte des Dorfes. Er war schon vor der Ankunft des DFB skeptisch, ob der Ort nachhaltig profitieren werde. Nun sieht er sich bestätigt: „Es ist, als wären die Deutschen nie da gewesen“, sagt Paixao.

Die Unzufriedenheit vieler Bewohner besteht aus einer komplizierten Gemengelage: Sie beginnt mit einem vom DFB versprochenen Fußballplatz für die Gemeinde, der lange nicht fertig wurde. Und sie endet bei einem verwahrlosten Trainingsplatz der deutschen Elf in einem empfindlichen Gebiet, in dem sonst Schildkröten Eier legen. Dazwischen gibt es Widersprüche und Anschuldigungen. Aber im Mittelpunkt der Kritik stehen die Besitzer des Campo Bahia, jener Luxusherberge, die nach den Bedürfnissen des DFB errichtet und später als „das beste WM-Quartier aller Zeiten“ von Verbandspräsident Wolfgang Niersbach gerühmt wurde.

Campo Bahia verursachte Umweltschäden

Leá Penteado wohnt unweit des Campo Bahia. Früher arbeitete sie als Journalistin und trat als eine der größten Kritiker des Quartiers auf. Nun ist sie Sprecherin der Gemeinde Santa Cruz Cabrália auf der anderen Flussseite, zu der aber auch Santo André gehört. Am Montag hatte sie ein kleines Fest zum einjährigen Jubiläum der deutschen Ankunft in Santa Cruz Cabrália organisiert. Aber auch sie sagt: „Es gab Umweltschäden durch das Campo Bahia.“ Die Besitzer hätten dafür 300.000 Reais (86.000 Euro) zahlen müssen. Geld, das für eine bessere Wasserversorgung bestimmt war. Doch ein Jahr später zieht Waltraud Busch ein ernüchterndes Fazit: „Das Wasser ist immer noch braun.“

Ein Dorfbewohner, der nicht genannt werden will, berichtet, dass der eigens für die DFB-Auswahl errichtete Trainingsplatz fünf Autominuten außerhalb des Ortes in Mitten eines Naturschutzgebietes nun brach liege: „Sie haben die Tore und das Licht abgebaut und sogar den Rasen mitgenommen.“ Die Natur sei dabei, sich den Platz zurückzuholen. Die Besitzer des Campo Bahia hätten Rechnungen nicht gezahlt. Bewiesen ist das aber nicht. Rechtlicher Eigentümer des Campo Bahia ist Aquamarina Ltd. vertreten durch Christian Hirmer vom gleichnamigen Münchner Modeimperium. „Den Trainingsplatz gibt es noch. Er wird derzeit aber nicht benutzt“, sagt Steffen Bruhn, ein Sprecher des Campo Bahia. Auf Nachfrage, ob der Traininsplatz tatsächlich nur noch als Skelett existiere, heißt es vom Campo Bahia, er sei heute nicht mehr in Betrieb, weil eine Idee für eine deutsch-brasilianische Fußballakademie des DFB von den Sponsoren nicht unterstützt wurde.

Nicht mehr Tourismus seit der WM

Glaubt man vielen Stimmen im Ort, hat das Campo Bahia ohnehin andere Probleme: Aus der exklusiven Unterkunft für die Nationalelf ist nach dem Turnier ein Ressort für Wohlhabende geworden: Will man in einer der 14 Villen schlafen, in der vor einem Jahr Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger wohnten, muss man ab 1800 Euro pro Nacht bezahlen. Die günstigste der 65 Suiten kostet ab 270 Euro. Vor allem große Firmenveranstaltungen fänden hier statt, sagt Bruhn. Aber auch er gibt zu: Campo Bahia habe nur eine Auslastung von 40 Prozent im ersten Jahr.

Die Dorfbewohner glauben nicht einmal an diese Zahl: „Leer, leer, leer“, ist die übereinstimmende Antwort auf die Frage, wie es dem Campo Bahia geht. Einer, der dort arbeitet und deshalb nicht genannt werden will, spricht sogar von durchschnittlich nur zwei Villen pro Monat, die gebucht seien sollen. Jo Ferro ist eine der wenigen, die offen über das Campo Bahia redet: „Sie haben nicht genügend Gäste, so wie viele Unterkünfte hier“, sagt Ferro. Sie ist die Eigentümerin der Pousada Terra Morena am Ortseingang. Und auch sie hat Probleme. „Dass die Deutschen hier waren, hat leider nicht dazu geführt, dass wir heute viel davon profitieren. Deutlich mehr Tourismus haben wir nicht“, sagt Ferro.

Brasilianische Wirtschaftskrise legt den Immobilienmarkt lahm

Ein Grund dafür könnte in Brasiliens ökonomischer Krise liegen. Die Inflation ist angezogen, die Kaufkraft stagniert. Seit März gibt es wieder Massendemonstrationen in vielen Städten. In Santo André hängen wie schon während der WM an vielen Häusern „Zu Verkaufen“-Schilder. „Aber niemand kauft. Der Immobilienmarkt ist tot“, sagt Waltraud Busch.

Der DFB hat versucht, positive Spuren in Santo André zu hinterlassen. Zum Teil ist das auch gelungen. Es wurde ein Förderfond in Höhe von 200.000 Euro für die Zeit bis zur nächsten WM für den Ort eingerichtet. Für die örtliche Schule wird über vier Jahre eine Nachmittagsbetreuung mit 100.000 Euro finanziert. Die erste Rate von 25.000 Euro sei überwiesen, sagt ein DFB-Sprecher. Seit April nehmen 48 Kinder daran teil. Waltraud Busch bestätigt das, sagt allerdings auch: „Das Geld reicht bisher nur für zwei Tage in der Woche, aber immerhin.“ Zudem hat der DFB neue Schuluniformen gekauft und eine Klimaanlage installiert. Dem indigenen Stamm der Pataxó wurde ein Krankenwagen finanziert. Auch die Mountainbikes, mit denen die Spieler kaum fuhren, wurden der Schule gespendet. „Aber noch sind wir sie nicht losgeworden.“ Sehr geholfen habe aber eine Spende von Nationalspieler Sami Khedira über 10.000 Euro.

DFB plant Inspektionsreise nach Santo André

Für Ärger aber sorgte schon während der WM der vom DFB versprochene Bolzplatz im Dorfzentrum. Nachdem die Verlegung des Rasens nicht voran ging, hatten Bewohner ein Schild aufgestellt: „Wo ist der Platz?“ Und auch nach dem Turnier ist lange nichts passiert, sagt Thiago Paixao: Sieben Monate habe keiner daran gearbeitet. Bis heute sei er nicht ganz fertig. „Vor den Toren gibt es immer noch Lücken im Rasen“, sagt Waltraud Busch. Es werde jetzt aber fast täglich darauf gespielt.

Der DFB wird im kommenden Jahr eine letzte Inspektionsreise nach Santo André unternehmen. Man wird ein Paradies vorfinden, das zurück ist im Dornröschenschlaf und dieselben Probleme hat. „Die WM kam, hat uns in Atem gehalten, und ist wieder gegangen“, sagt Waltraud Busch. „Santo André ist zu der Zeit davor zurückgekehrt.“