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So denkt Silvia Neid sechs Monate danach über die WM

So denkt Silvia Neid sechs Monate danach über die WM

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Sechs Monate nach der Frauenfußball-Weltmeisterschaft haben wir mit Bundestrainerin Silvia Neid über ihren Führungsstil, über die Nachwirkungen der WM, über ihren Umgang mit Birgit Prinz und über den Umbruch im Team gesprochen.

Essen. 

Die Frage war einfach, die Antwort schwierig. Welchen Fußball-Bundesligisten mag die Trainerin des Frauen-Nationalteams? Silvia Neid macht aus ihrem Herzen keine Mördergrube, die Bundestrainerin schätzt den Fußball, den Borussia Dortmund spielt. Ein Gespräch über die schönen Momente der Frauen-Weltmeisterschaft, die schwierigen Momente danach – und was vom erhofften Boom sechs Monate nach der WM 2011 zu spüren ist.

Frau Neid, es gibt eine 84 Seiten starke Broschüre des DFB, in der die Frauen-WM bis ins kleinste taktische Detail analysiert worden ist. Und zwar ausschließlich von Männern. Schauen die dann doch besser hin?

Silvia Neid: Diese Analyse haben wir lange vor der WM geplant. Und als Scouts habe ich bewusst viele Männer eingesetzt. Ich wollte den Blick von außen.

Und was ist den Herren aufgefallen?

Neid: Vor allem, dass vielen Teams häufig einfache Fehlpässe unterlaufen. Und dass die Torhüterinnen nicht so gut ausgebildet sind wie im Männerbereich.

Von Detailproblemen abgesehen: Wohin entwickelt sich der Frauenfußball?

Neid: Das Spiel wird, wie bei den Männern, athletischer. Und zwar weltweit. Alle Nationen werden stärker, immer mehr Länder stellen den Anspruch, Weltmeister zu werden. Ein großes Thema wird das Passspiel unter Druck, Technik unter Druck. Weil alle Mannschaften enger zusammenrücken, wird der gewinnen, der echte Persönlichkeiten hat. Spielerinnen, die etwas anderes machen als die anderen.

Möchten Sie eigentlich noch über die Frauen-WM sprechen?

Neid: Wieso nicht?

Man hat Ihnen nach dem Aus im Viertelfinale eine Menge Kritik um die Ohren gehauen. Zu Recht?

Neid: Manchmal hatte ich das Gefühl, als wäre endlich die Gelegenheit zum Kritisieren gekommen. Vorher ging es ja nicht, weil wir permanent erfolgreich gespielt hatten. In dieser Phase wirst du hochgejubelt und dann ist der Weg nach unten plötzlich sehr weit. Auf einmal ist man ‘ne Bratwurst und nichts von dem, was du vorher erreicht hast, hat noch Bestand. Das ist Schwarz-Weiß-Malerei, die mir nicht gefällt.

Man hat Ihren Rücktritt gefordert, Sie haben nach zwei Tagen gesagt: Ich mache weiter. Aus Trotz?

Neid: Nein. Ich hatte vor allem den Rückhalt von DFB-Präsident Theo Zwanziger. Das war sehr wichtig. Dann haben Freunde, wirklich gute Freunde, viel mit mir gesprochen. Meine Familie und meine Spielerinnen haben mir gut zugeredet. Dass man nach einer WM müde ist und grübelt, ist doch normal.

Aber nur zwei Tage lang?

Neid: Das war natürlich auch nicht richtig. Hätte ich mich aber erst nach einer Woche geäußert, wäre es zu spät gewesen. Das war eine Phase, in der ich es niemandem mehr recht machen konnte.

Mal anders herum: Der große WM-Favorit Deutschland ist draußen und Sie sagen „Ich habe keinen Fehler gemacht.“ Da wundert Sie Kritik?

Neid: Jetzt frage ich Sie: Sie verlieren nach 120 Minuten gegen Japan, die Nacht danach ist sehr kurz, Sie sind tief enttäuscht und traurig. Dann kommt diese Frage. Was hätte ich antworten sollen?

Vielleicht…

Neid: Vielleicht hätte ich sagen sollen: Wenn man nicht weiter kommt, hat man Fehler gemacht. Aber ich konnte mich nicht hinsetzen und erzählen, alles war falsch. Auch dafür wäre ich zerrissen worden.

Was sagen Sie heute, mit großem Abstand?

Neid: Tja, was habe ich falsch gemacht? Es ist mir nicht gelungen, den Druck von den Spielerinnen zu nehmen. Dennoch hatten wir gegen den späteren Weltmeister Japan mehr Spielanteile, zumindest haben wir uns gegenseitig neutralisiert. Dann machen wir am Ende der Verlängerung einen Fehler. Aus. Dass diese Spiele auf Messers Schneide stehen, ist doch logisch, wir reden von einem WM-Viertelfinale. Ich habe vorher genau das gesagt, aber ich hatte das Gefühl, es wollte keiner hören.

Diese WM ist im Vorfeld mächtig angeheizt worden. Es ging um die Zukunft des Frauenfußballs, und manchmal dachte man, es kommt ein gesellschaftspolitisch bedeutendes Ereignis auf uns zu. Hatten Sie eine Chance, die Aufgeregtheiten etwas zu dämpfen?

Neid: Das war natürlich schwer. Ich habe es versucht, ich habe immer gesagt, dass es andere gibt, die den Titel holen können. Sechs, sieben Teams kamen für mich in Frage. Ich habe auch Japan genannt, immer wieder.

Im Fernsehen lief ein Werbespot unter dem Motto „Platz drei ist was für Männer“. Ein Fehler?

Neid: Der kam doch nicht vom DFB. Wir haben den gesehen und gedacht: Nanu, was ist denn da passiert? Die haben alle vergessen, dass wir noch spielen müssen.

Also viel zu viel Druck auf dem Kessel?

Neid: Ja. Es gab den Druck von jeder Spielerin selbst: Ich will besonders gut sein, das ist die WM im eigenen Land, ich kann ein Star werden. Dazu kam diese gewaltige Erwartungshaltung von außen. Das hat sich gegenseitig aufgebaut.

Aber waren das nicht Geister, die man gerufen hat?

Neid: Ja, schon. Aber für uns war vieles neu. Am Ende stehen dann Spielerinnen, die vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Die den Fernseher einschalten und sich sehen. Die beim Blick aus dem Hotelfenster auf die Ü-Wagen und Fans schauen. Die zwischendurch Eltern und Freunde getroffen haben. Die ganzen Ablenkungen, die gewaltige Öffentlichkeit – das gab es in diesem Ausmaß für uns vorher nicht.

Ihre Torhüterin Nadine Angerer hat das sehr schön auf den Punkt gebracht…

Neid: Sie sagte, bei der WM 2007 in China hätten auf unserer Etage grundsätzlich alle Zimmertüren offen gestanden. Diesmal waren die Türen immer zu, weil jeder mit sich selbst genug zu tun hatte. Da fehlt irgendwann die Kraft, sich Gedanken über das Team zu machen. Und trotzdem: Für mich war das ein tolles Ereignis. Ich würde so eine WM immer wieder erleben wollen. Auch mit der Schelte danach.

Silvia Neid über Birgit Prinz 

Obwohl man Sie schon während des Turniers wegen des Umgangs mit Birgit Prinz gescholten hat?

Neid: Alles ist ausgeräumt. Wir haben uns getroffen, es war ein tolles Gespräch. Ich wollte nie Birgits Ansehen untergraben.

Haben Sie vielleicht zu lange an einer Starspielerin festgehalten, die ihren Zenit überschritten hatte?

Neid: Natürlich haben wir uns vorher gefragt, ob Birgit das bis 2011 auf höchstem Niveau schafft. In der Vorbereitung war sie zunächst so gut wie alle anderen. Aber es gab einen Punkt, ab dem ihre Formkurve nach unten zeigte je näher es Richtung WM ging. Aber es ging uns auch um Ausstrahlung, um eine Leitfigur, um jemanden, der den entscheidenden Pass spielt. Ich habe gedacht, wenn die WM erst los geht, ist Birgit wieder voll da. Aber nach zwei Partien konnte ich sie nicht mehr in der Startelf einsetzen. Ich musste meinem Prinzip treu bleiben: Die elf Besten fangen an.

Hat Sie der Wirbel kalt erwischt?

Neid: Erst haben viele gefordert, dass Birgit nicht mehr spielt. Dann hat sie nicht gespielt und es hat einigen auch nicht gepasst. Was man mir nicht vorwerfen kann, ist, dass ich nicht mit ihr kommuniziert hätte. Das Gegenteil war der Fall. Birgit Prinz war eine ganz außergewöhnliche Spielerin und ich wollte, dass wir das gemeinsam hinkriegen.

Man hat die Frauen-WM mit Erwartungen überfrachtet. Was hat sie bis heute tatsächlich gebracht?

Neid: Sehr viele Menschen sprechen immer noch über die WM. Die Bundesliga hat neue Fans dazu bekommen. Natürlich reden wir nicht über große Dimensionen, aber es ist eine Entwicklung zu sehen. Ich denke, es läuft in etwa so, wie es realistisch zu erwarten war.

Inzwischen läuft die EM-Qualifikation. Routiniers wie Prinz, Ariane Hingst oder Kerstin Garefrekes haben aufgehört. Müssen Sie neben der EM-Quali auch noch einen Umbruch schaffen?

Neid: Es ist ein kleinerer Umbruch. Wir versuchen seit Jahren, junge Spielerinnen frühzeitig zu integrieren und an das Tempo und das taktische Verhalten in der Weltspitze heran zu führen. So wie Lira Bajramaj oder Babett Peter. Beide sind erst 23 Jahre alt, beide haben über 50 Länderspiele. Uns soll nicht passieren, was die Chinesinnen erleben müssen. Da haben die Alten aufgehört und die Jungen sind noch nicht so weit. Deshalb sind sie von der Weltspitze verschwunden.

Haben Sie sich seit der WM im Umgang mit Ihren Spielerinnen verändert?

Neid: Vielleicht in diesem Punkt: Ich möchte, dass meine Spielerinnen mehr Verantwortung übernehmen, weil wir Persönlichkeiten entwickeln wollen. Üblicherweise ist es so: Man betet alles vor – wie der Gegner spielt, was man dagegen tun kann. Seit der WM lasse ich Spielerinnen bewusst selber Strategien mitentwickeln. Weil ich glaube, dass sie dann mehr Verantwortung übernehmen.

Man hat sie als General beschrieben, manchmal, weniger schmeichelhaft, auch als Feldwebel. Fühlen Sie sich gut getroffen oder eher gekränkt?

Neid: Es muss in einer Gruppe klare Regeln geben. Sonst funktioniert es nicht. Ich habe eine genaue Vorstellung davon, wie der Fußball meines Teams aussehen soll. Deshalb mache ich Vorgaben. Aber wenn man schreibt, ich schaue nicht nach links und rechts, ist das falsch. Ich bin nicht stur, aber ich habe eine Linie. Wissen Sie was?

Was?

Neid: Ich war ja auch mal jung. Ob das in der Schule oder im Verein war, wenn du eine Schwäche bei einem Lehrer oder einem Trainer erkannt hast, hast du sie ausgenutzt. Ich habe am meisten von Menschen gelernt, die konsequent waren.