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Neuer und das verlorene Gesicht

Neuer und das verlorene Gesicht

Manuel Neuer glaubt, mit dem Wechsel nach München einen „großen Schritt“ in seiner Karriere zu machen. Was steht ihm bevor, was lässt er hinter sich? Eine Gewinn- und Verlustrechnung für den Schalker Torwart

Essen. 

Auch die letzte Karte, der Appell an die Ehre, stach nicht. „Manu, deine Mission auf Schalke“, hatte Aufsichtsratschef Clemens Tönnies unlängst seinen Torhüter in einem Vier-Augen-Gespräch beschworen, „ist noch nicht beendet.“ Ist sie, wie wir inzwischen wissen, in sechs Wochen doch. Anlass genug, vor dem ersten Heimspiel (Samstag, 15.30 Uhr gegen Kaiserslautern), in dem die königsblauen Anhänger Manuel Neuer als designierten Bayern-Keeper wahrnehmen, den Versuch einer eine ganz persönlichen Gewinn- und Verlustrechung für Neuer aufzumachen.

Der Vereins-Faktor:

Bei jeder Sportler-Verein-Beziehung stellt sich die nie zufriedenstellend zu beantwortende Frage, wer wem wie viel zu verdanken hat. Dass Schalke von Manuel Neuers Torwartkünsten enorm profitierte, ist unstrittig. Auf der anderen Seite konnte Neuer nur deshalb so beispiellos durchstarten, weil ihm der damalige Schalke-Coach Mirko Slomka schon als gerade mal 20-Jährigem ab dem 5. November 2006 (2:2 gegen die Bayern) völlig überraschend den Vorzug vor Stammtorwart Frank Rost gegeben hatte. Woanders hätte er auf diese Chance womöglich viel länger warten müssen.

Fazit: Neuer gibt einen Klub auf, der ihm den Weg zur großen Karriere bereitet hat. Und der zu den Topklubs der Liga mit fast regelmäßiger internationaler Präsenz gehört. Weil er Schalke aber auch viel zurückgegeben hat, muss er zumindest in dieser Hinsicht gleichwohl kein schlechtes Gewissen haben.

Der Fan-Faktor:

Geboren in Gelsenkirchen-Buer, stand Neuer, der alle Jugendmannschaften im Verein durchlief, bis zu seinem Sprung in den Profikader bei Heimspielen der Königsblauen regelmäßig in der Nordkurve unter den treuesten Fans. Die Haupt-Feindbilder dieser Anhänger sind: Borussia Dortmund und Bayern München.

Fazit: Neuer verlässt einen Klub, mit dem er so verwurzelt ist wie wenige Profis mit einem Verein. Er geht zum Branchenführer in Deutschland, dessen Anhänger bezeichnenderweise gerade deshalb so auf Konfrontationskurs zu ihm gegangen sind, weil sie mit ihm als Ur-Schalker alles verbinden, was sie an Königsblau nicht ausstehen können. Daran, dass der Profi Neuer die Dinge so glasklar vom Fan Neuer zu trennen weiß, wie er vorgibt, hat seine Pressekonferenz Zweifel genährt.

Der Geld-Faktor:

Neuer, so die Einschätzung der meisten Fußballfans hat si an den Gesetzen des Marktes orientiert, indem er sich für das bessere finanzielle Angebot entschied – und damit nebenbei auch seinem chronisch klammen Heimatverein einen Gefallen getan. Zumindest Teil zwei dieser Argumentation stimmt so nicht mehr. Steht Schalke doch aufgrund der unerwarteten Mehreinnahmen von bis zu 70 Millionen Euro in der laufenden Saison heute unter keinem existenziellen Druck mehr, eine Ablösesumme erzielen zu müssen. Dass man diese jetzt dennoch – zum letztmöglichen Zeitpunkt – mitnimmt, ist wirtschaftlicher Vernunft geschuldet.

Fazit: Bei den Bayern wird Neuer mehr verdienen, womöglich hat er sogar schon einen satten Vorschuss (wie einst Sebastian Deisler) kassiert. Schalke jedenfalls hatte nie eine ernsthafte Chance, mitzubieten, weil die Münchner jede S04-Offerte vermutlich noch um eine oder mehrere Millionen erhöht hätten. Aber angesichts der Summen, die inzwischen auch auf Schalke für Topstars (Raul!) aufgerufen werden, fällt es Normalverdienern schwer zu glauben, dass der Unterschied von, sagen wir: sechs zu acht Millionen Euro im Jahr ausschlaggebend für einen Wechsel ist.

Der Karriere-Faktor

Seit 1958 hat Schalke keine Schale mehr in der Hand gehabt. In diesem Zeitraum gewann der FC Bayern 21 deutsche Meistertitel. Rein statistisch betrachtet, wird Neuer also etwa in jedem zweiten Jahr bei den Bayern die Schale auf dem Marienplatz in den Himmel stemmen. Mit Schalke würde er dagegen das Risiko eingehen, nicht jedes Jahr in der Champions League zu spielen und am Ende seiner Karriere ohne Meistertitel dazustehen. Für seine Perspektive in Nationalelf ist dies allerdings unerheblich, seit er die unumstrittene Nummer 1 ist. Vor der WM, als Neuer noch hinter Rene Adler rangierte, wäre die starke Lobby der Bayern zweifellos ein starkes Argument für einen Wechsel gewesen, heute nicht mehr.

Fazit: Titel sind das, wonach Sportler streben. So gesehen, dürfte sich Neuers Wechsel auszahlen. Aber sind Titel wirklich alles? Klaus Augenthaler hat mit den Bayern sieben Meisterschaften gewonnen, „Katsche“ Schwarzenbeck sechs. Und? Eben. Mit dem Weggang aus Schalke beraubt sich Neuer der Chance, auf Schalke etwas Einmaliges zu erreichen und alles zu toppen, was er in München gewinnen kann.

Der Treue-Faktor:

Je schneller sich im Profifußball das Spieler-Karrussel dreht, umso häufiger sieht man Bilder, auf denen Torschützen das Vereinsemblem küssen, um ihre Verbundenheit mit ihrem Klub zu demonstrieren, den sie dann beim erstbesten lukrativeren Angebot zu verlassen pflegen. Die meisten Fußballfreunde sind inzwischen realistisch genug, um Treuebekenntnisse als Worthülsen zu werten. Neuer jedoch hat den königsblauen Fans, zu denen er regelmäßig in die Kurve stieg, um Erfolge gemeinsam mit ihnen auszukosten, über Jahre das Gefühl vermittelt, hier könne einer doch anders sein als alle anderen. Der Tenor: „Unser Manu zu den Bayern oder zum BVB? Nie.“ Real oder Manchester, okay, das hätten sie ihm gerade noch durchgehen lassen.

Fazit: Der Nationalkeeper muss sich zwar um seine Akzeptanz in München keine Sorgen machen. Nach den ersten tollen Paraden werden ihn auch diejenigen, die ihn vor Wochen noch auspfiffen, als neuen Kahn feiern. Aber Neuer weiß auch: Er lässt auf Schalke viele Menschen zurück, die bitter enttäuscht sind, weil er den Helden aus königsblauem Blut so überzeugend gegeben hat. Und die sich jetzt vor ihren – schon immer skeptischeren – Freunden und Kollegen als naive, weltfremde Zeitgenossen bloßgestellt sehen. Klar, Neuer wird in München neuen Applaus bekommen, aber keine vergleichbare Liebe wie auf Schalke. Schalke verliert mit Neuer „das Gesicht des Vereins“ (Aufsichtsratschef Clemens Tönnies), Neuer in den Augen mancher Fans aber auch sein eigenes.

Schlussbemerkung: In einem der vielen Internetforen, die mit Stellungnahmen zu Neuers Wechsel überquellen, hat ein Schalker Anhänger die Befindlichkeiten eines großen Teils der Fangemeinde so zusammengefasst: „Danke, Manu und alles Gute in München. Aber erspare uns bitte künftig das Bekenntnis, wie sehr dein Herz immer noch an Schalke hängt.“