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Gebietsreform und Heimatliebe – Das Ende von Kettwig, Wattenscheid und Rheydt

Gegen die Heimatliebe: Das Ende von Kettwig und Wattenscheid

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Westfalenpost Lokalred. Hagen Foto: Helga Reiher
Auch 40 Jahre nach der Gebietsreform sind Heimatliebe und kommunale Grenzen in vielen Fällen nicht deckungsgleich: Viele Menschen in den einst selbstständigen Gemeinden trauern der Eigenständigkeit nach.

An Rhein und Ruhr. 

Auch Städte können Phantomschmerzen haben. Als vor sieben Jahren die Bahn erwog – mit einer selbst für dieses Unternehmen erstaunlichen Verspätung von 33 Jahren – Stationsnamen der Gebietsreform von 1975 anzupassen, gingen Menschen auf die Barrikaden: Rheydt sollte seinen Hauptbahnhof verlieren, bloß weil Rheydt seit 1975 ein Ortsteil von Mönchengladbach ist. Und die so gewachsene Stadt am Niederrhein sich seitdem rühmen konnte, weltweit einzigartig, gleich zwei Hauptbahnhöfe zu haben…

Denken in den Grenzen von 1975

Auch der Bahnhof in Duisburg-Rheinhausen heißt nur Rheinhausen, und die Stationen in Kettwig müssen ohne das Präfix „Essen“ auskommen: Selbst 40 Jahre nach dem Abschluss der Gebietsreform trauern Menschen den Kommunen in den Grenzen vor 1975 nach – als die Zahl der Gemeinden von rund 24 000 auf 8500 reduziert wurde. Mit Gesetzespaketen, die so spannende Namen trugen wie „Sauerland/Paderborn-Gesetz“ oder „Niederrhein-Gesetz“.

Dort beispielsweise gingen die Eltener auf die Barrikaden, als sie 1975 nach Emmerich eingemeindet werden sollten. Für viel Geld ließen sie eine flammende Streitschrift gegen das drohende Ungemach drucken: „Elten – ein brennendes Problem“. Die Eltener wollten partout nicht ihren Segen dazu geben, dass da zwei Orte zusammenwachsen sollten, die ihrer Meinung nicht viel gemein hatten: Hier ein prosperierender Erholungsort, dort die mehr schlecht als recht wirtschaftende Industriestadt. Nein, mit „Munition“ hielt das von unbeugsamen Eltenern bevölkerte Dorf wahrlich nicht hinterm 80 Meter hohen Berg. Und stand wie ein Mann hinter der Selbstständigkeit. Da half es auch nichts, dass NRW-Innenminister Willi Weyer den Eltenern eine Spielbank versprach – die Kugel im Casino rollte ohnehin nie.

Das versprochene Casino kam nie

Stattdessen zahlten die Eltener gutes Geld für einen Gutachter und prozessierten vor dem Verfassungsgerichtshof in Münster. Aber es half alles nichts. Und so wurden vor 40 Jahren 3928 Eltener dem Pass nach Emmericher, weil 3928 Einwohner in den Augen der „Neuordner“ in Düsseldorf einfach zu wenig für eine lebensfähige Gemeinde waren.

Ein eigenes, liebenswertes Völkchen sind die Eltener freilich geblieben. Und gelegentlich steigt auch noch Rauch vom Eltenberg auf. So ist Elten der einzige Emmericher Ortsteil, der keinen Ortsvorsteher mehr hat, sondern einen Ortsausschuss. Den gab’s 1975 schon einmal, schlief aber schnell wieder ein. Wiederholt sich Geschichte? Die Selbstständigkeit des charmanten „Silberdorfes“ ist selbst für Nostalgiker heute kein Thema mehr. Doch einen Eltener zu finden, der sagt, er sei Emmericher, ist so unwahrscheinlich wie 365 Tage Sonnenschein im Jahr

So aufregend fand der Landesvater das Thema eher nicht: Beim Thema Gebietsreform habe er sich oft so gelangweilt „wie die Eule im Mauerloch“ bekundete der damalige SPD-Ministerpräsident Kühn in seinen Memoiren. Gleichwohl brachten die Reformpläne Tausende Menschen in Wallung und auf die Straße: Die Kettwiger, deren katholische Einwohner bis heute nicht zum Essener Bistum gehören, aber zur weltlichen Stadt. Und das, obwohl sie für sich in Anspruch nehmen können, neben Werden als einziger Stadtteil Essens südlich der sprachlich bedeutsamen „Benrather Linie“ zu liegen. Nördlich, so die Sprachforscher, sagen Menschen im Dialekt „maken“ statt „machen“. Mit gewissem Recht könnten die Kettwiger argumentieren, dass sie von Menschen regiert werden, die nicht einmal die gleiche Sprache sprechen.

Nicht verstanden fühlten sich die Bewohner auch vieler anderer Städte: Im sogenannten „Kettwiger Kreis“ verbündeten sich noch zwischen 1983 und 1990 Bürger von Kettwig, Wattenscheid, Hohenlimburg (bei Hagen), Porz (Teil von Köln), Rheinhausen und Rheydt mit dem Ziel, die in ihren Augen gescheiterte Gebietsreform rückabzuwickeln. Vergeblich.

Das hatten in den Jahren und Jahrzehnten schon viele einst eigenständige Kommunen versucht, sie waren aber meist vor dem Münsteraner Landesverfassungsgerichtshof gescheitert – mit einigen pikanten Ausnahmen: Das früh bespöttelte Flickwerk „Glabotki“ wurde wieder getrennt: Gladbeck bekam seine Eigenständigkeit zurück, genauso wie Wesseling (südlich von Köln) und das wiederbelebte Städtchen Monheim am Rhein, das Langenfeld, Düsseldorf und Leverkusen gern unter sich aufgeteilt hätten – genauso wie Düsseldorf und Krefeld sich die erst 1969 gegründete, wohlhabende Stadt Meerbusch unter den Nagel reißen wollten.

Nur Monheim gelang der Sprung zurück in die Selbstständigkeit

Monheim wurde schließlich Stadtteil von Düsseldorf – für ein Jahr, dann hatten die Bemühungen um die Selbstständigkeit doch noch juristischen Erfolg. Nicht nur im Düsseldorfer Rathaus wird man sich angesichts der sehr eigenständigen, kommunalen Steuerpolitik des jungen und von aller Landesparteiräson befreiten Bürgermeisters Daniel Zimmermann ein wenig ärgern, dass das Urteil damals so und nicht anders ausgefallen ist.

Wie groß die Sehnsucht nach jener alten bundesrepublikanischen Gebietsordnung ist, zeigt auch die Wiederbelebung historischer Autokennzeichen: Im November 2012 eingeführt, wurden innerhalb von anderthalb Jahren fast eine Viertelmillion Altkennzeichen an des Heimattreuen liebstes Kind geschraubt. Knapp 9000 Wattenscheider Wagen fragen seitdem wieder: „WAT“ soll das mit der Eingemeindung nach Bochum? Mehr als 17 000 Dinslakener wollen sich genauso wenig dem 1975 neu geformten Kreis Wesel beugen wie 35 000 Bewohner der weitaus größten Stadt im Kreis: Moers.

70 000 Menschen wollen umziehen, ohne ihr Haus zu verlassen

Die alte Grafenstadt erfreut sich derartig großer Beliebtheit, dass rund 70 000 Duisburger am liebsten nach Moers umziehen wollen, ohne ihre Häuser zu verlassen: CDU und FDP in Homberg und Baerl plädieren seit 2014 für den Anschluss an Moers – haben sie doch ohnehin die gleiche Telefonvorwahl.

Das allerdings ist ein weiter Weg, denn kommunale Neuordnungen kann nur die Landesregierung beschließen. Insofern bleibt die Hoffnung auf einen neuen Zuschnitt von Gemeindegrenzen wohl eine interkommunale Narretei. Darin immerhin haben Homberger und Moerser Übung: Alljährlich zieht der Nelkensamstagszug über die Stadtgrenze hinweg. Lachen und Bonbons werfen ist vielleicht nicht die schlechteste Lösung, Grenzen aus den Köpfen zu kriegen. Ansonsten helfen Ausflüge. Zum Beispiel zum Rheydter Hauptbahnhof. Den gibt es nämlich immer noch.