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Die lange Geschichte der Sinti und Roma

Die lange Geschichte der Sinti und Roma

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Foto: Ulla Emig/WAZ FotoPool
Sie nennen sich schlicht Menschen und werden auch in Deutschland oft misstrauisch beäugt. Doch was sind die Ursachen für die versteckte Ablehnung? Und wo kommen die „Zigeuner“ eigentlich her?

Brüssel. 

Nein, sie klauen keine Kinder, die meisten leben nicht im Wohnwagen, und sie sind als Menschenschlag auch nicht per Erbanlage aufs Betteln und Stehlen gepolt. Seit sich herumgesprochen hat, dass der Ausdruck „Zigeuner“ (wahrscheinlich abgeleitet vom griechischen „Athinganoi“ – Unberührbare) eine Schmähung ist, sind die krassesten Vorurteile über die Leute, die man früher ohne viel Federlesens so bezeichnete, aus der Öffentlichkeit verschwunden. Unverhohlener Rassismus ist mittlerweile tabu. Statt dessen herrscht eine Mischung aus schlechtem Gewissen, Verlegenheit und mühsam unterdrücktem Widerwillen. Eine Art Ablehnung light. Zu einem guten Teil gründet sie in Unkenntnis. Wer sind die? Woher kommen sie? Wie soll man mit ihnen umgehen?

„Wir kommen aus Ungarn“

Es sind Fragen, die man an Fremde stellt – obwohl hierzulande schätzungsweise 70 000 bis 100 000 Sinti und Roma leben, viele in Familien, die seit Generationen hier ansässig sind. Sei haben deutsche Pässe, wohnen in Häusern, sprechen neben ihrer Sprache Romanes Deutsch, sind Katholiken oder Protestanten. Mit der italienischen Hauptstadt haben sie nichts zu tun. „Rom“ bedeutet schlicht „Mensch“. International hat sich die Sammel-Bezeichnung „Roma“ eingebürgert, auch für die Angehörigen der Volksgruppe in Deutschland. Diese besteht allerdings aus zwei Untergruppen und nennt sich daher „Sinti und Roma“, wobei die Sinti den weitaus größeren Anteil stellen. Die Schlagersängerin Marianne Rosenberg („Er gehört zu mir“) ist Sintezza, stammt also aus einer Sinti-Familie. „Aber mein Vater hat mir gesagt, wenn die Menschen fragen, woher wir kommen, dann sagst du: Wir kommen aus Ungarn.“

Die Vorfahren der Sinti kamen aus dem heutigen Indien und Pakistan. Der erste Zug nach Westen, in mehreren Wellen zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert, war mehr eine Verschleppung als eine Wanderung. Die islamischen Eroberer machten Gefangene und zwangen die Besiegten zum Kriegsdienst. Sklavenhändler schafften Hunderttausende nach Südost-Europa.

In Deutschland sind die Neulinge aus Asien seit Anfang des 15. Jahrhunderts urkundlich erwähnt. Anfangs waren die Fremdlinge wegen ihrer Fertigkeiten als Musiker, Kunst-Handwerker und Waffenschmiede beim Adel wohl gelitten, kamen sogar in den Genuss königlich verbriefter Sonderrechte. Doch schon bald ließen die Missgunst der Zünfte und der Argwohn der Kirche die Stimmung kippen: Der Zugang zu den traditionellen Handwerken wurde gesperrt. Auf Reichstagen im 16. Jahrhundert wurden die „Zigeuner“ für vogelfrei erklärt und aus vielen Teilen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation verbannt – ihr Nomaden-Dasein, das später den Vorwand für die herabsetzende Behörden-Kennzeichnung „Landfahrer“ lieferte, war meist Flucht vor Verfolgung und die Suche nach Überlebensmöglichkeiten. In anderen Ländern Europas war die Lage der Roma ähnlich prekär.

Das Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert brachte ein Umdenken, aber kein Ende der Drangsalierung. „Eingliederung“ hieß das neue Motto, doch darunter war obrigkeitlicher Zwang zu verstehen. Die Jungen wurden dem „Zigeunerleben“ entrissen, um ein Handwerk zu lernen und anschließend Militärdienst zu leisten. Die Pflege der eigenen Kultur und Sprache wurden vielerorts untersagt. Eine den Gemeinden auferlegte Verpflichtung, anwesenden Sinti und Roma an bestimmten Stichtagen das Bürgerrecht zu verleihen, führte zu Aufruhr und Pogromen. Roma-Familien holten ihre von der Polizei mitgenommenen Jungen zurück – Hintergrund des Ammenmärchens von den Zigeunern, die Kinder stehlen.

Nachdem Rumänien und Bulgarien Mitte des 19. Jahrhunderts die Leibeigenschaft der Roma abschafften und viele daraufhin ihr Glück im Westen des Kontinents suchten, verschärfte sich die Lage. Das wilhelminische Reich schloss die Grenzen, ergriff Maßnahmen gegen „die Zigeunerplage“ und leitete die systematische Erfassung der Betroffenen ein – bürokratische Grundlage für die Vernichtungsoperation der Nazis. In den Konzentrationslagern wurde eine halbe Million Sinti und Roma umgebracht.

Die Bundesrepublik weigerte sich bis 1982, diesen Holocaust wie den an den Juden begangenen als Völkermord anzuerkennen. In einem Urteil des Bundesgerichtshofes hieß es: „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität … Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum.“ Erst 1995 bekamen die Sinti und Roma den Status einer geschützten Minderheit. Seit dem Oktober 2012 erinnert in Berlin-Tiergarten ein Mahnmal an die Ausrottung der „Zigeuner“ durch den NS-Staat.

Doch die Diskriminierung dauert an. „Sinti und Roma sind eine Minderheit, die gesellschaftlich nicht anerkannt ist wie die Sorben und Dänen in Deutschland“, klagt Tom Koenigs, Grünen-Politiker und Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im Bundestag. „Die Roma sind noch immer marginalisiert, ungeliebt und diskriminiert, werden verachtet, bedrängt, abgeschoben. Oder man sieht eben etwas peinlich berührt schnell über sie hinweg.“