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Die gefährlichste Stadt heißt Ciudad Juárez

Die gefährlichste Stadt heißt Ciudad Juárez

Die gefährlichste Stadt der Welt heißt Ciudad Juárez und liegt im Norden Mexikos. Seit Jahresanfang starben dort über 300 Menschen. Nach Einbruch der Dunkelheit traut sich in Ciudad Juárez kaum noch einer auf die Straße.

Ciudad Juárez. 

Atemlos biegt der Junge um die Ecke. Er ist höchstens acht. „Mama, Mama!“, ruft er und rennt unter dem gelben Plastikband hindurch, das den Tatort absperrt. Zwei vermummte Polizisten fangen ihn ab. Die Mutter kann ihren Sohn nicht mehr hören. Sie liegt im Innern der Bar Las Torres, blutüberströmt, von Kugeln durchsiebt, die schwer bewaffnete Killer abgaben – in der gefährlichsten Stadt der Welt, Ciudad Juárez in Nordmexiko.

Sechs Kellnerinnen und zwei Kunden sterben sofort, zwei Frauen werden schwer verletzt. Nach fünf Minuten ist der Spuk vorbei, das Auto mit den Killern braust davon. Die Polizeistatistik verzeichnet die Opfer als die Toten Nr. 10 bis 17. Seit Jahresanfang starben in Ciudad Juárez über 300 Menschen. Erst gestern kamen 18 Menschen ums Leben.

Ein Dutzend Neugierige haben sich hinter den gelben Plastikbändern eingefunden. Es gibt sonst wenig Abwechslung in einer Stadt, die langsam ausblutet, in der Restaurants und Clubs dicht gemacht haben und sich nach Einbruch der Dunkelheit kaum noch einer auf die Straße traut. „Das ist schon das zweite Mal, dass in der Bar so was passiert, vermutlich haben sie das Schutzgeld nicht bezahlt“, murmelt ein Mann.

Weil man zu viel redet oder die falschen Leute kennt

In Juárez stirbt man schnell. Weil man zu viel weiß, weil man zu viel redet, weil man die falschen Leute kennt oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Ein Schaulustiger raunt, der Besitzer, dessen junge Frau unter den Toten ist, habe mit „dem Falschen“ Geschäfte gemacht. Der „Falsche“ heißt Joaquin alias Chapo Guzmán, ist der Anführer des mächtigen Sinaloa-Kartells und derjenige, der vor drei Jahren zum Angriff auf die Stadt blies, in der bis dahin das Juárez-Kartell das Sagen hatte.

Seither starben fast 8000 Menschen im Kugelhagel – zuerst Schlüsselfiguren der Kartelle, dann Dealer, Kleinkriminelle und Polizisten, schließlich jeder, der mit jemandem verwandt oder bekannt war, der vage zur anderen Seite gezählt wurde. Von einem „Zerstörungskrieg bis zur Erschöpfung, in dem immer mehr Unschuldige sterben“ spricht Gustavo de la Rosa, der Menschenrechtsbeauftragte des Bundesstaates Chihuahua. Vor einem Jahr waren es 16 Schüler, die bei einer Party niedergemetzelt wurden – eine Verwechslung.

Einem unsichtbaren Feind hinterherhecheln

Warum die Frauen in der Bar sterben mussten? Das wird man kaum erfahren. 90 Prozent der Morde werden niemals aufgeklärt. Die zwölf Ermittlerteams der Stadt sind heillos überfordert. Die Gemeindepolizei gilt als unfähig und korrupt. Zur Verstärkung hat Präsident Felipe Calderón 4500 Bundespolizisten und 3500 Militärs nach Juárez geschickt. Doch sie hecheln hilflos einem unsichtbaren Feind hinterher.

Vorbei sind die Zeiten, als in Juárez Vollbeschäftigung und Wohnungsmangel herrschte, die Nachtclubs dank der Gäste aus dem benachbarten US-Städtchen El Paso florierten.Heute stehen 120 000 Häuser, Geschäfte und Lagerhallen zum Verkauf. Restaurants und Nachtclubs waren die ersten, die nach Massakern und Schutzgelderpressungen dicht machten. Die Immobilienpreise sind um die Hälfte gesunken. 160 000 Menschen sind geflohen. „Um fünf Uhr sind wir alle zu Hause und beten, dass es ruhig bleibt“, sagt die Hausfrau Isela Calamaco aus einem Armenviertel. Taxis lesen keine Passagiere mehr auf der Straße auf.

Als der Präsident zum Drogenkrieg blies

70 Prozent aller Ärzte haben ihre Praxen dichtgemacht. Mehrfach verfolgten die Killer ihre verletzten Opfer bis in die Hospitäler. Juárez ist die Drehscheibe für den Drogenexport: 40 Prozent des Kokains für den US-Markt werden hier durchgeschleust. Die Stadt wurde zur Hochburg des gleichnamigen Kartells, alle profitierten davon: die Bauern, die in ihren Scheunen die Ladungen lagerten, die Fahrer, die die Ware über die Grenze schafften, die Kneipen, in denen der neue Reichtum ausgegeben wurde – bis zu Geschäftsleuten und Politikern. Als Präsident Felipe Calderón 2007 zum Drogenkrieg blies und das Juárez-Kartell in Bedrängnis geriet, startete das Sinaloa-Kartell seine blutige Übernahme. Ein Ende der Gewaltspirale ist nicht abzusehen.