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Überlebende erinnert sich an Hiroshima-Inferno

Eine Hiroshima-Überlebende erinnert sich

Hiroshima. Ein greller Blitz am Himmel, sengende Hitze, heftige, explosionsartige Windwirbel, Flammen rasen durch die Stadt. Stunden später fällt schwarzer Regen auf die Menschen, die noch immer dem Inferno zu entrinnen suchen. Dann breitet sich der Tod mit bewegungsloser Stille aus.

Vor 65 Jahren, am 6. August 1945 um 8 Uhr 15, wurde die japanische Stadt Hiroshima Opfer der ersten Atombombe der Welt. Die Stadt im Mündungsdelta des Ota wurde in Bruchteilen von Sekunden völlig verwüstet. Die radioaktiven Strahlen der 580 m über dem Stadtkern gezündeten Bombe, die die amerikanische B 29-Superfortress abwarf, drangen tief in die menschlichen Körper und zerstörten die Zellstrukturen. Die Zahl der Toten in Hiroshima bis Ende Dezember 1945 – als die akuten Strahlungsschäden nachließen – wird auf 140 000 geschätzt. Die Überlebenden sind bis heute von den Auswirkungen der Strahlen bedroht. Zehntausende starben an den Folgen der ersten Atombombe – vor Jahresfrist, am 6. August 2009, war die Zahl der registrierten Todesopfer auf 263 945 gestiegen. Bei der Gedenkfeier wird auch dieses Jahr eine neue Liste mit den Namen der in den letzten zwölf Monaten an den Folgen der Strahlenschäden Gestorbenen offen gelegt.

„Der Himmel war klar“

Ich treffe Miyoko Matsubara in der Gedenkstätte im Friedenspark von Hiroshima. Die zierliche Frau ist eine „Hibakusha“, eine Überlebende der Atombombe. Die damals 12jährige Schülerin war der Bombe an einem Ort ausgesetzt, die weniger als eine Meile vom Epizentrum entfernt war.

Als Miyoko Matsubara die erlebte Katastrophe zu schildern beginnt, sprudeln die Worte aus ihr heraus, als sei sie erst vor Tagen oder Wochen Opfer und Zeugin dieses unsagbaren Infernos geworden.

„Am Morgen des 6. August war der Himmel klar“, erinnert sich die 77jährige Zeitzeugin, „als die Sonne aufging, wurde es schnell warm“. Um 7 Uhr 09 hatten die Alarmsirenen geheult, 22 Minuten später kam die Entwarnung. Viele Menschen waren an jenem Sommermorgen damit beschäftigt, hölzerne Gebäude aus Feuerschutzgründen abzureißen, um die Folgen von möglichen Bombenabwürfen der Amerikaner zu mildern. In Hiroshima hielten sich – 40 000 japanische Soldaten eingeschlossen – um die 350 000 Menschen auf, darunter zahlreiche Chinesen, Koreaner und etliche Kriegsgefangene der westlichen Alliierten, Amerikaner, Australier und Holländer.

„Für uns Schüler“, sagt Frau Matsubara, „gab es während des Krieges keine Ferien. An diesem Morgen waren wir Schülerinnen der Unterstufe in der Nähe der Tsurumi-Brücke mit Abbrucharbeiten beschäftigt“.

„Plötzlich schrie meine beste Freundin Takkio: ‚Ich höre eine B 29!’ Ich dachte, das könne bei so klarem Himmel doch nicht möglich sein. Ich sah nach oben – und dort, weit am Himmel, den weißen Kondensstreifen der Maschine“.

„Ich sah“, fährt sie fort, „wie aus dem Heck des Flugzeuges ein glänzender Körper fiel. Ich warf mich auf den Boden. Ich hörte ein unbeschreibliches, erschlagendes Brüllen. Ich dachte, das Flugzeug habe direkt auf mich gezielt. Ich weiß nicht, wie lange ich da gelegen habe. Als ich zu mir kam, hatte sich der sonnige Morgen in eine schwarze Nacht verwandelt. Takkio, die neben mir gelegen hatte, war verschwunden“.

„Ich versuchte aufzustehen. Alles, was von meiner Jacke übrig war, war der obere Teil um meine Brust. Meine Arbeitshosen waren einfach weg. Einzig der Gürtel und winzige Fetzen waren übrig. Ich hatte nur noch weiße Unterwäsche an. Das Weiß bewahrte mich vor dem Tod, denn Schwarz hätte die Hitze absorbiert“.

„Wir wussten nicht, dass es eine Atombombe war“

Die über Hiroshima gezündete Bombe, die die USA seit 1942 im Rahmen des „Manhattan-Projektes“ entwickelt hatten, war drei Meter lang und wog vier Tonnen. Ihre lange dünne Form verlieh ihr den Spitznamen „little boy“. Die Bombe war mit zehn bis dreißig Kilogramm Uran 235 beladen. Doch schon die sofortige Spaltung von weniger als einem Kilogramm setzte die Energie von 15 000 Tonnen herkömmlichen Sprengstoffes frei. Im Augenblick der Explosion betrug die Lufttemperatur mehrere Millionen Grad Celsius. Einige Millionstelsekunden nach der Explosion entstand ein riesiger fauchender Feuerball mit einem Durchmesser von 28 Metern. Die Wucht der Explosion setzte eine enorm starke Wärme und radioaktive Strahlen in alle Richtungen frei. Ihr folgte eine Detonation mit ungeheurem Druck.

Die aus der aufgewühlten Luft nach der Explosion entstandene Welle wurde von der starken Strömung nach oben gezogen. Als die Säule des radioaktiven Rauches den unteren Bereich der Stratosphäre erreichte, breitete sich horizontal mit einem Durchmesser von mehreren Kilometern ein Pilz aus. Der Wind löste den Atompilz auf und vermischte ihn mit der übrigen Luft.

„Wir wussten ja gar nicht, dass es eine Atombombe war“, sagt Frau Matsubara. Zwanzig Minuten nach der Explosion fiel schwarzer Regen. Dieser Fallout aus radioaktivem Ruß und Staub wird in Japan seither „Todesasche“ genannt.

Drei Tage später, am 9. August 1945, warfen US-Piloten ebenfalls aus einer B 29 eine Atombombe über Nagasaki ab. Der Befehl kam direkt aus Potsdam – vom amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman, wo er mit Stalin und Churchill über das besiegte deutsche Nazi-Reich beriet. Viele Jahrzehnte später hat der ehemalige US-Botschafter in Tokio, Edwin O. Reischauer, den Bombenabwurf über Nagasaki als Kriegsverbrechen bezeichnet. Für die zweite Bombe habe es „keine Rechtfertigung“ gegeben.

Kritik an der japanisch-amerikanischen Allianz

Japan, das über sechs Jahrzehnte nach Kriegsende noch immer nicht die eigenen Kriegsverbrechen angemessen aufgearbeitet oder gar eingeräumt hat, schweigt bis heute über dieses Geständnis des amerikanischen Spitzendiplomaten und Japan-Experten Reischauer. Doch zu den Gedenkfeiern in Hiroshima ist in diesem Jahr erstmals der amerikanische Botschafter in Tokio als offizieller Gast geladen.

Tadatoshi Akiba, der Bürgermeister von Hiroshima, will die Teilnahme von ausländischen Gästen, darunter UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon, für eine Kritik an der ohnedies innenpolitisch umstrittenen japanischen Sicherheitspolitik nutzen. So will er an die Regierung in Tokio den Appell richten, künftig auf den atomaren Schutz durch die amerikanischen Verbündeten zu verzichten. Außerdem soll Japan weder eigene Atombomben entwickeln noch ausländische – an Bord amerikanischer Kriegsschiffe – ins Land lassen.

Mit Blick auf die aktuelle Diskussion in Japan über die Zukunft der US-Militärbasen auf Okinawa ist die brisante Botschaft aus Hiroshima ein Angriff auf die japanisch-amerikanische Militärallianz. Die regierende Demokratische Partei hatte zunächst weitgehend pazifistische Positionen vertreten, diese jedoch unter Hinweis auf die chinesische Aufrüstung und nordkoreanische Drohungen aufgegeben. Die neue japanische Regierung wird vermutlich den Transport von Atomwaffen in japanische Hoheitsgewässer ausdrücklich bewilligen und den Export von Rüstungsgütern gestatten.

Wäre der Name Hiroshima nicht Fanal genug, die atomare Abrüstung voranzutreiben und ihre Rolle in den nuklearen Strategien zu reduzieren – die Suche vor Ort nach den Spuren der ersten Atombombe fällt dem Besucher 65 Jahre nach ihrem Einsatz schwer. Mitten in der einst geschäftigen Residenzstadt, auf der dreieckigen Deltainsel zwischen den Flüssen Motoyasu und Honkawa, ist die Ruine des Atombombendoms nicht zu übersehen. Die ehemalige Ausstellungshalle mit der markanten Kuppel steht dort als ständiges Mahnmal – nur 160 Meter vom Epizentrum der Explosion entfernt. Doch in den Schluchten der Hochhäuser, ein paar Straßen entfernt vom Friedensmahnmal, verlieren sich die Spuren.

Wer mag es Miyoko Matsubara verargen, dass sie bei der Frage nach dem neuen Hiroshima still wird. „Das überlasse ich Ihrem Urteil“, sagt sie leise mit resignierender Stimme, als verzweifele sie an der Gleichgültigkeit der Nachgeborenen. „Das Moment des Erschreckens dauert nicht ewig“. Dann schaut sie mich durchdringend an: „Wir Opfer haben viel mehr Kraft, und unser Geist muss weiter leben“.