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Palliativmedizin – Der Kämpfer gegen den Schmerz der Kinder

Palliativmedizin – Der Kämpfer gegen den Schmerz der Kinder

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Foto: Matthias Graben
Früher wollte Boris Zernikow die Welt retten. Für seine Patienten tut er das auch: Er ist Chefarzt der ersten Schmerzambulanz für Kinder in Datteln.

Datteln. 

Man fragt sich: Warum hat dieser Mann so gute Laune, warum sieht er so zufrieden aus? Seine Augen lächeln verschmitzt, er scherzt und streift sich die widerspenstigen Locken aus der Stirn. „Ich wollte eigentlich die Welt retten“, sagt er. Mindestens aber den Wald, die Natur. Heute ist Boris Zernikow Chefarzt an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln, hat täglich mit dem Leid und den Schmerzen seiner kleinen Patienten zu tun. Denn er ist Arzt für Palliativ- und Kinderschmerzmedizin, leitet die deutschlandweit erste Schmerzambulanz für Kinder. Es ist nicht die ganze Welt, die er rettet, doch er macht die „kleine Welt“ seiner chronisch kranken kleinen Patienten täglich ein wenig erträglicher.

Kinder, die hierher kommen, leiden unter solch starken Schmerzen, dass sie kein normales Leben führen können. So wie der einjährige Mio, der ohne Arme auf die Welt kam. Nun liegt er auf der Station „Lichtblicke“, ein heller, freundlicher Ort „für Menschen, die Hoffnung brauchen“.

Trost auch für die Angehörigen

Qual, Trauer und Tod treffen die ganze Familie. In Datteln werden auch die Angehörigen umsorgt. „Nicht Hektik und Stress, sondern Zeit und Zuwendung müssen unsere Arbeit mit den Familien bestimmen, damit sie die wertvolle verbliebene Zeit so intensiv wie möglich gestalten können“, sagt Zernikow. Das kann nicht einer alleine, dafür braucht man ein Team aus Ärzten, Pflegenden, Psychologen und Therapeuten – „wir alle brennen für unsere Arbeit“.

Auf der Station für Kinder mit funktionellen Schmerzen, der Station „Leuchtturm“, sollen Kinder und Jugendliche lernen, mit ihren Schmerzen zu leben. „Zu Beginn kommen sie zu mir und wollen, dass ich den Schmerz wegmache. Ich versuche ihnen beizubringen, dass sie ihn selbst in den Griff bekommen können, wenn sie nur wollen.“ Die Kinder müssen lernen, dass kurzfristiger, akuter Schmerz etwas anderes ist als dauerhafter, chronischer Schmerz. „Bei akuten Schmerzen ist im Körper irgendetwas kaputt, etwa der Blinddarm ist entzündet. Dieser Schmerz ist ein wichtiges Alarmsignal“, erklärt Zernikow. „Chronische Schmerzen aber kann der Mensch nicht begreifen. Ständig Kopfschmerzen? Da muss etwas im Kopf kaputt sein.“ Ist es aber nicht.

Lernen, den Schmerz zu verlernen

Warum, ist schwer zu verstehen. Schmerzen entstehen im Gehirn, es lernt Schmerz, sagt Zernikow. Wie einen lästigen Ohrwurm, den man nicht mehr loswird. Wenn Gefühle hinzukommen, lernt das Gehirn besonders leicht. Traurigkeit, Kummer, Ausweglosigkeit, diese Emotionen verbünden sich mit dem Schmerz, und er bleibt, wird schlimmer. Die Auslöser sind vielfältig: das kann Angst sein, Hilflosigkeit, Depressionen, Missbrauch, Mobbing, Erfahrung von Tod und Trennung, Probleme mit den Eltern, der Schule. „Je intensiver man sich auf den Schmerz einlässt, desto mehr lernt das Gehirn.“ Medikamente helfen nicht gegen die Pein.

Was es lernt, kann das Gehirn aber auch wieder „vergessen“. In Datteln können die Kinder lernen, ihren Schmerz zu bewältigen, ihn zu verlernen. Es gibt Hunderte Methoden dafür, allen ist gemein, das Gehirn zu beschäftigen und abzulenken, immer wenn der Schmerz auftaucht. Das funktioniert. Zernikow: „Ein Jahr nach der Behandlung haben wir 500 Kinder gefragt, was am besten geholfen hat. Die meisten haben gesagt: Dass wir die Medikamente abgesetzt haben.“ Natürlich seien Schmerzmittel weiter nötig, bei einer akuten Migräneattacke helfe nichts anderes. „Aber für alle anderen chronischen Schmerzen, Bauch, Rücken, Muskeln, brauchen wir keine Medikamente.“ Dazu muss man den Kindern nahekommen, verstehen, woran sie leiden. „Jedes Kind hat seine ureigene Idee. Wir nehmen sie ernst. Nur so bekommen wir heraus, was gegen Schmerzen wirkt.“

Eine Arbeit, die Sinn stiftet

Seinen Humor hat er in all den Jahren nicht verloren. Wie bewahrt er sich seinen Optimismus? „Ich bin genau dort, wo ich hingehöre“, sagt er ernst. Ich erlebe intensive, echte menschliche Begegnungen. Mir stellt sich die Sinnfrage an keinem Tag.“ Nur mit der großen Frage nach dem Warum hadert der gläubige Christ zuweilen. Warum lässt Gott all das zu? „Dann kommt ein Gefühl der Schwere auf“, sagt er leise und lächelt nachdenklich.