Hagen/Kreuztal. Er ist seit zwölf Jahren Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), seit 24 Jahren dort im Vorstand, vor 36 Jahren, 1979, ließ er sich als Kinderarzt in Kreuztal nieder: Wolfram Hartmann kennt sich aus, wenn es um Gesundheit von Kindern und Jugendlichen geht. In diesem Herbst gibt der Siegerländer sein Amt ab. Wir sprachen mit Hartmann über seine Amtszeit, Kinder, Eltern und Flüchtlinge.
Vorsorgeuntersuchungen
Es wird im Grundschulalter und für Jugendliche eine zusätzliche Vorsorgeuntersuchung geben, das sieht das neue Präventionsgesetz vor. Das ist ein wesentlicher Erfolg meiner Amtszeit, daran haben wir lange, lange gearbeitet.
Impfpflicht
Auch da tut sich etwas. Wir haben jetzt eine Beratungspflicht für Eltern, bevor die Kinder in eine Kindertageseinrichtung kommen. Sollte diese Beratung nicht den gewünschten Erfolg bringen – das wären Impfraten über 95 Prozent – dann denkt Bundesgesundheitsminister Gröhe noch einmal über die Impfpflicht nach.
Beschneidung
Ein ganz wichtiges Thema in meiner Amtszeit. Es gab viele Diskussionen bis hin zum Europarat. Wir haben jetzt – aus Rücksicht auf die jüdischen Mitbürger – ein Gesetz, das die Beschneidung von Jungen erlaubt, auch durch Nicht-Mediziner. Das Thema ist aber noch nicht vom Tisch. International wird diskutiert, dass Jungen das gleiche Recht auf körperliche Unversehrtheit haben wie Mädchen. Es gibt kein geteiltes Menschenrecht. Aus medizinischen und ethischen Gründen ist es nicht vertretbar, die Vorhaut zu entfernen, ohne dass da ein krankhafter Befund vorliegt.
Flüchtlinge
Wir müssen sicherstellen, dass alle Flüchtlinge medizinisch untersucht werden und dass Impflücken geschlossen werden. Damit wollen wir auch ausschließen, dass Krankheiten, die bei uns ausgestorben sind, zurückkehren - wie Kinderlähmung, Diphtherie oder Tuberkulose - das kennen die jüngeren Ärzte gar nicht mehr. Untersuchungen und Impfungen müssen gut organisiert werden, noch fehlt es da an einigem. Wir Ärzte brauchen Hilfestellungen, die Asylbewerber müssen nach deutschem Recht ja der Impfung zustimmen, deshalb benötigen wir Informationen in der Sprache der Asylbewerber. Notwendig sind auch Fortbildungen aller Ärztinnen und Ärzte über Erkrankungen, die bei uns nicht mehr vorkommen.
Freiwillige Untersuchungen
Wir appellieren an unsere Mitglieder im Ruhestand, dass sie Flüchtlingskinder freiwillig untersuchen. Die Bereitschaft ist auch da. Ein großes Problem sind unbegleitete Flüchtlingskinder, die einen Vormund brauchen, damit wir sie behandeln können. Die sind teilweise stark traumatisiert. Da fehlt uns oft die notwendige Hilfestellung, etwa durch Dolmetscher.
Was früher anders war
Als ich in die Pädiatrie ging, gab es viele akute Erkrankungen, die es heute infolge der Impfungen nicht mehr gibt. Etwa Windpocken oder Pneumokokken-Infektionen.
Was heute anders ist
Wir haben einmal vielfach verunsicherte Eltern, die wir davon überzeugen müssen, dass ihre Kinder gar nicht krank sind. Auch Erzieherinnen an Kindergärten und Schulen sind oft überfordert. Medizinisch betrachtet benötigen vielleicht fünf bis sieben Prozent der Kinder Ergotherapie und Logopädie, tatsächlich erhalten sie in manchen Regionen 30 Prozent der Kinder. Dabei haben die Kinder nur pädagogische Defizite. Ein Kollege hat das mit einem Buchtitel treffend beschrieben: Kindheit ist keine Krankheit. Viele Eltern aber wollen heute, dass ihre Kinder optimal funktionieren. Wenn ein Baby dann mit zwölf Monaten nicht laufen kann, wird das schon zum Problem. Das macht uns viel Arbeit. Dazu kommt, dass wir bildungsferne Eltern haben, wo die Kinder keine ausreichenden Anregungen erhalten. Viele Kitas sind schon rein personell nicht in der Lage, dies auszugleichen.
Osteopathie
Das ist eine Modeerscheinung, ein typisches Beispiel für eine Diagnose ohne echten Befund. Viele Eltern scheinen zu glauben, dass Kinder ohne osteopathische Behandlung nicht erwachsen werden können. Das aber ist Quatsch. Osteopathie ist auch keine Regelleistung bei den Kassen, aber viele zahlen das trotzdem, weil sie die Osteopathie als Marketing-Instrument sehen. Jede Sitzung beim Osteopathen kostet 60 Euro.
Medienkonsum
Immer jüngere Kinder haben eigene Smartphones, das geht teilweise schon im Vorschulalter los. Das hemmt die Entwicklung. Was die Bewegung betrifft, können Kinder heute viel weniger als früher. Das gleiche gilt für Kinder mit eigenem Fernseher. Das ist eine Entwicklung, die man leider wohl nicht mehr stoppen kann, aber man sollte die Medien-Zeit begrenzen. Vorschulkinder sollten höchstens eine halbe Stunde gemeinsam mit den Eltern Fernsehen schauen, Jugendliche höchstens zwei Stunden am Tag am Fernseher, Smartphone oder Rechner verbringen. Wichtig ist, die Jugendlichen auf die Gefahren aufmerksam zu machen. Sie sollten sich in den sozialen Medien nicht entblößen, das macht sie anfälliger für Mobbing-Attacken. Viele Eltern wissen gar nicht, was die Kinder im Netz treiben. Auch Schule muss mehr aufklären.