Veröffentlicht innachrichten-aus-attendorn-und-finnentrop

Sein Buch gilt als die Bibel im Strafrecht

Sein Buch gilt als die Bibel im Strafrecht

Thomas Fischer ist Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Der 61-Jährige stammt aus Rönkhausen bei Finnentrop. Er hat in den vergangenen Jahren frischen Wind hereingebracht, Gefügigkeit und Unauffälligkeit sind seine Sache nicht.

Finnentrop/Karlsruhe. 

„Sie wissen, ich gelte als bunter Hund“, sagt Thomas Richter beim ersten Kontakt. Ja, das ist bekannt. Ein Etikett, das das Interesse an seiner Person nicht schmälert. Der 61-Jährige hat dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, bildlich gesehen, in den vergangenen Jahren viel frische Farbe verpasst. Sein kluger Kopf pinselt nicht alles glatt. Mit klaren Ansichten über den Zustand des Rechtsstaates spielt der Jurist beim Übertünchen der Missstände nicht mit.

„Für einen Bundesrichter ist das offenbar überraschend“, sagt ­Fischer. „Wir haben eine lange Tradition eines Beamtenrichtertums, wo Gefügsamkeit und Unauffälligkeit, auch gegenüber der Obrigkeit, als oberste Tugend galt.“

Seine Offenheit kommt in Deutschlands höchstem Revisionsgericht nicht gut an. Es hüllt sich lieber in Schweigen. Nichts darf nach draußen klingen. Ein Verhalten wie beim Vatikan, das sich mit höfischen Gehabe paart. Aber Fischer spielt nicht mit: „Warum soll ich mich als Richter unsichtbar machen? Ich kann mit dieser überzogenen Vorsicht, sich überhaupt als Person zu äußern, wenig anfangen.“

Unbequemer Richter

So überrascht es nicht, dass es ­Fischer war, der zum ersten Mal in der Geschichte des Bundesgerichtshofes seine Beförderung zum Vorsitzenden des 2. Strafsenats eingeklagt hat. Mit Erfolg. „Richter sind auch Arbeitnehmer. Warum soll ich mich grob willkürlich und ungerecht ­behandeln lassen?“ Für ihn absolut keine Frage.

Seine Lebensgeschichte liefert Antworten. Der unbequeme Richter ist seinen Weg, der kein leichter war, immer gegangen. Am Anfang ist Werdohl im Märkischen Kreis, sein Geburtsort: „Die Stadt habe ich seither nie wieder gesehen. Ich bin von 1953 bis 1969 in Finnentrop-Rönkhausen aufgewachsen. Für mich war das ein finsteres Loch.“

Keine guten Erinnerungen

Der gebürtige Sauerländer hat ­wenig gute Erinnerungen an seine Jugend. „Nicht an zu Hause, nicht an die Schule. Ich war ein schlechter Schüler, bin in der Quinta und der Untersekunda am Gymnasium in Plettenberg sitzen geblieben.“ In Rönkhausen fühlt sich Fischer als Außenseiter. Sein Vater war ­Sudetendeutscher. Ein Mann, der das Vertriebenenwesen stark gepflegt hat. Fischer: „Man war immer noch fremd.“ Sein Vater stirbt, als er 13 Jahre alt ist. „Danach war sozusagen Schluss mit Erziehung und Folgsamkeit.“

Mit 16 Jahren ist er von zu Hause weg, zieht alleine ins hessische Friedberg und bricht dort die 12. Klasse ab. Den Kopf voll mit ­jugendlichen Visionen. „Ich wollte ein berühmter Rockmusiker werden, ich hatte als Keyboarder in einer Band gespielt.“

Zwei Jahre wohnt er in einer ­Musikkommune in Worms. Mit ­wenig Geld, viel Begeisterung und wenig Erfolg. „Wir sind mit dem Versuch, als Popstars Karriere zu machen, kläglich gescheitert. Tatsächlich haben wir in Möbelfabriken oder Schreinereien gearbeitet, weil wir von der Musik nicht leben konnten.“ Fischer hält sich mit Jobs über Wasser, geht zurück nach Friedberg auf seine alte Schule, macht mit 20 sein Abitur. Es läuft glänzend. „Ich hatte fast ausschließlich Einsen.“ Eingezogen zur Bundeswehr, verweigert er den Wehrdienst. Vier Monate dient er als Panzerjäger. „Eine furchtbare Zeit. Am Ende bin ich im dritten Durchgang vor dem Verwaltungsgericht anerkannt worden.“ Seinen Zivildienst absolviert er als Rettungssanitäter beim Arbeiter-Samariter-Bund in Frankfurt-Höchst. „Das hat mir viel Spaß gemacht.“

Strafrecht für sich entdeckt

Im Anschluss verfolgt er seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden. Schnell merkt Fischer, dass ihm das Germanistik-Studium nicht weiterhilft. Nach zwei Semestern wechselt er das Fach, widmet sich Jura. „Von der ersten Vorlesung im Strafrecht an wusste ich, hier bist du richtig.“

In der Mindeststudienzeit absolviert er sein Studium, „einer von 1000 macht das“, und promoviert in der Zeit als Referendar. Für seinen Unterhalt sorgt er selbst. „Ich hatte nie Unterstützung von zu Hause, und ich habe auch nicht geerbt. Ich habe immer gearbeitet, um mein ­Leben einigermaßen selbstbestimmt zu führen. Das hat mir sehr viel genützt.“

Heute schätzt der Vater von zwei Söhnen, sie sind 29 und 28 Jahre alt, im Rückblick seinen Werdegang. „Ich habe viele verschiedene ­Milieus kennengelernt. Und ich weiß über viele Dinge aus eigener Erfahrung mehr als andere in meinem Beruf – also auch zum Beispiel, kein Geld oder keine Perspektive zu haben.“ Selbstlob liegt ihm nicht, aber es muss geschrieben werden. Fischer zählt seit Jahren zu den maßgeblichen Strafrechtlern in Deutschland.

Kommentar prägt die Praxis

Sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch, ein mehr als 2500 Seiten starker Wälzer mit dem ­Namen Beck’sche Kurz-Kommentare, gilt als die Bibel im Strafrecht. Verteidiger, Staatsanwälte und Richter nutzen ihn als Grundlage zur Urteilsfindung. Fischer freut sich innerlich, auch Stolz über seinen Einfluss schwingt mit. „Es ist der Kommentar, der die Praxis prägt. Es ist schön für mich, bedeutet aber eine hohe Verantwortung. Nicht zuletzt ist es hartes Brot, diese Fülle an Material aufzuarbeiten und die unterschiedlichen Erwartungen und Ansprüche zu bedienen.“

Und als maßgebliche juristische Autorität im Strafrecht wurmt es ihn, wenn gegen das Recht verstoßen wird. Wie zum Beispiel der Fall des Bundestagsabgeordneten Edathy. „Da wurde gesagt, er hat etwas getan, was nicht verboten ist. Das ganze Verfahren diente dazu, die Straftat erst einmal zu finden. Das halte ich für unzulässig“, sagt der Bundesrichter. „Mit dem Schritt der Staatsanwaltschaft Hannover an die Öffentlichkeit ist sein Leben zerstört. Ganz gleich, ob er was Strafbares getan hat oder nicht.“

Und mit der seit November 2009 gesetzlich vereinbarten Abspracheregelung zwischen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Gericht im Strafverfahren kann sich Fischer nicht anfreunden. „Ich bin immer ein dezidierter Gegner dieser Deals gewesen – bis heute.“

Absurdes Missverhältnis bei Strafen

Warum? „Weil seine Regeln nicht eingehalten werden. Es hat sich eine Stimmung eingeschlichen, ausgelöst durch den Druck vieler Verfahren und komplizierter Regelungen, die eine Haltung fördert: Man macht sich das Leben leicht, schlampt herum und erledigt die Hälfte der Sachen als Deal.“ Das hält er für ungerecht.

Nicht der einzige Grund. Oder? Die Antwort kommt prompt: „Wenn man wie bei einer Wirtschaftsstraftat viel zu verhandeln hat, ich denke da an die 100 Ordner im Rücken, hat man beim Deal auch viel zu gewinnen. Die Dummen sind die gewöhnlichen Verbrecher. Bei ihnen gibt es nichts zu dealen.“

Die Folge: Die Strafen stehen nach seiner Ansicht in einem geradezu absurden Missverhältnis. „Für Raub und Diebstahl gibt es verhältnismäßig hohe Strafen, Urteile bei Wirtschaftsstraftaten fallen milde aus.“ Fischer arbeitet intensiv daran, dass sich die Justiz in Deutschland an Recht und Gesetz hält, Vorwürfe als Nestbeschmutzer sind inklusive. Er geht in seinem Beruf auf: „Das kann nicht jeder sagen. Das ist ein großes Glück.“