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Das Westfalenstadion – Hommage an einen Betonklotz

Das Westfalenstadion – Hommage an einen Betonklotz

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Foto: Stefan Reinke
Der 2. April 1974 ist für Dortmund der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Nicht nur für Fußball-Dortmund, sondern für die ganze Stadt. Denn mit der Einweihung des Westfalenstadions an eben jenem Tag änderte sich alles. Eine ganz persönliche Hommage an einen Fußball-Tempel.

Dortmund. 

Strobelallee 50. Werde ich nach meiner Adresse gefragt, müsste ich eigentlich stets diese angeben. Zu oft bin ich im „echten“ Leben umgezogen, um behaupten zu können, es gäbe so etwas wie meine ureigene Adresse. Seit dem 2. April 1974 steht an der Strobelallee 50 in der südlichen Dortmunder Innenstadt das Stadion, das früher einmal Westfalenstadion hieß. Eine in Beton gegossene Konstante, Schauplatz aller erdenklichen Höhe- und Tiefpunkte.

Was heißt überhaupt „echtes“ Leben? Findet das nicht im Stadion genauso statt wie in der Schule, im Kreißsaal oder auf der Arbeit? Eine Schwangerschaft bietet neun Monate lang Zeit, um sich auf die Geburt des Kindes vorzubereiten. Eine Schulkarriere endet irgendwann mehr oder weniger zwangsläufig mit einem Abschlusszeugnis. Aber ein 3:2 in der 94. Minute kommt aus dem Nichts — wenn es überhaupt kommt!

Wenn ich nach den emotionalsten Momenten meines Lebens gefragt würde, fielen mir spontan nur solche ein, deren Schauplatz der Klotz an der Strobelallee war. Meine erste Meisterschaft am 17. Juni 1995, exakt an meinem 24. Geburtstag also. Ein 3:2-Sieg gegen den HSV nach 0:2-Rückstand. Dieses wahnwitzige 11:1 gegen Bielefeld mit zehn Toren in einer Halbzeit. Ricken gegen La Coruna. Natürlich der Moment, als Felipe Santana den Ball gegen den FC Malaga über die Linie stocherte. Last-Minute-Siege und -Niederlagen (ich sage nur: Roy Makaay!). Ganz gewiss der innere Abschied vom Stadion und vom BVB, als die Mannschaft am 13. März 2005 daheim gegen den VfB Stuttgart verlor und diese Niederlage das letzte schlechte Omen vor der Entscheidung der Gläubiger der eigentlich schon toten Borussia zu sein schien.

Dazu kommen die unzähligen Spiele, von denen ich heute weder Gegner noch Ergebnis sagen kann, die aber einfach zum Gesamtpaket „Westfalenstadion“ dazugehören.

13 Wohnungen — aber nur ein Stadion

Ich bin nur knapp drei Jahre älter als das Westfalenstadion. Ich habe auf Juist, in Dortmund, Duisburg, München und wieder Dortmund und dabei in dreizehn Wohnungen gewohnt. Und immer an der Strobelallee 50 gelebt. Wenn der Centre Court von Wimbledon Boris Beckers Wohnzimmer ist, dann ist das Westfalenstadion mein Haus. Ganz am Anfang war ich im stadioneigenen Kinderhort – wie Jahrzehnte später meine Tochter auch. Mein Kinderzimmer war die Haupttribüne, Block H, Reihe 3, Platz 1, auf der ehemaligen Pressetribüne. Beziehungen meines Vaters zur Stadt Dortmund machten es möglich. Meine Jugend verbrachte ich in Block 15 auf der Südtribüne, als sich dieser Block noch um die Ecke bis vor Block 13 zog. Wenig später bin ein paar Stufen höher in eben diesen legendären 13er gezogen. Dort lernte ich meine heutige Ehefrau kennen. Zusammen bezogen wir Jahre später zwei frische Sitze in Block 87, bevor ich vorübergehend wieder auf die Pressetribüne wechselte – diesmal berufsbedingt und mittlerweile auf der Osttribüne. Jetzt hat uns Block 87 wieder.

Schon als kleiner Junge war ich von diesem Stadion gepackt. Damals, Ende der 70er, war der Kontrast zwischen dem Westfalenstadion und anderen Arenen noch viel krasser als heute. Selbst im kleinen Wedaustadion in Duisburg war man unendlich weit weg vom Geschehen. Erst recht in den Schüsseln von Düsseldorf oder Gelsenkirchen. Im Westfalenstadion waren Heimspiele daher nicht nur geografisch gesehen Heimspiele, sondern auch wegen der Nähe zum Spiel und den Spielern. Daran konnten auch furchtbare 0:1-Niederlagen gegen Waldhof Mannheim nichts ändern.

Schon bei der Eröffnung verzaubert das Westfalenstadion seine Besucher

Das Stadion übte schon bei seiner Eröffnung seinen Zauber auf die Besucher aus. Dabei war das Westfalenstadion in seiner ursprünglichen Form ein Billigmodell in Fertigbauweise. Nach englischem Vorbild entstand an der Strobelallee eine Arena mit vier einzelnen Tribünen.

Alle Planungen – vor allem im finanziellen Bereich – hingen eng mit der WM 1974 in Deutschland zusammen. Ein langes Hickhack um den Austragungsort Dortmund und den damit zusammenhängenden Stadionbau war die Folge. Mittendrin: der DFB, der mit hohen Anforderungen die Kommunen ans finanzielle Limit drängte. Einige Städte schlossen sich sogar zusammen, um gegen die Vorgaben zu protestieren. Dortmund spielte dabei eine führende Rolle. Die Quittung dafür erhielt die Stadt am 17. Mai 1971, als der Chef des WM-Organisationskomitees Hermann Neuberger den verdutzen Planern verkündete, Dortmund sei endgültig aus dem Rennen um eine WM-Arena.

Dortmund und der BVB verloren den Anschluss 

Somit drohte Dortmund nicht nur in sportlicher Hinsicht den Anschluss zu verlieren. Der BVB stieg in die Zweitklassigkeit ab und hatte mit großen finanziellen Sorgen zu kämpfen. Die Mannschaft musste ihre Spiele in der altehrwürdigen, aber maroden Kampfbahn Rote Erde austragen. Ein neues Stadion hätte der Stadt und dem Verein neuen Schwung gegeben. Bei den Machern um Sportdezernent Erich Rüttel reifte nun der Gedanke, auch ohne WM ein Stadion zu bauen – möglichst günstig in Palettenbauweise und komplett überdacht. Die Landesregierung sagte zu, den Bau auch ohne WM-Spiele zu fördern.

Rüttel fand außerdem eine Hintertür, wie Dortmund doch noch zur WM-Stadt werden konnte: als Ersatzspielort. Tatsächlich zog Köln im August 1971 seine Bewerbung zurück, Dortmund wurde WM-Stadt und hatte das billigste aller WM-Stadien (der Bau kostete nur 33 Millionen Mark). Fehlte noch ein Name. Die Leser der Westfälischen Rundschau votierten in einer Umfrage für den Namen „Westfalenstadion“ – passend zum Westfalenpark und zur Westfalenhalle.

Westfalenstadion war der Lebensretter der Borussia

Für die Borussia wurde das Stadion zum Lebensretter. Verloren sich im Stadion Rote Erde noch 8900 Zuschauer im weiten Rund, pilgerten durchschnittlich 25.400 Zuschauer ins Westfalenstadion. Schlechtes Wetter war keine Ausrede mehr, und wenn der Gegner lediglich vom Kaliber SpVgg. Erkenschwick war, reichte der neue Tempel als Grund, mal wieder dem BVB beim Kicken zuzusehen. 1976 stieg die Borussia endlich wieder in die Bundesliga auf.

War das Westfalenstadion zu Zweitligazeiten noch der Rettungsanker der klammen Borussia, so drohte es Anfang der 2000er zum Sargnagel zu werden. Ende der 90er Jahre kehrte der Größenwahn in Dortmund ein. Das Stadion wurde nach und nach ausgebaut. Zwischenzeitlich auf eine Kapazität von 69.000 Zuschauern, letztlich auf gut 80.000. Diese dritte Ausbaustufe, die Dortmund als Spielort für ein Halbfinale bei der WM 2006 qualifizierte, kostete den BVB wegen eines gewagten Finanzierungsmodells beinahe die Existenz. Zur Rettung der Borussia musste das Stadion seinen Namen hergeben und heißt nun „Signal Iduna Park“ — immerhin schon seit 2005 und mindestens bis 2026.

Den Sprung auf den Rasen geschafft — ganz legal und ohne Fußballtalent

Heute kann ich behaupten, dass ich dieses Stadion besser kenne als ich es mir als Kind und Jugendlicher je erträumen konnte. Die Rollen waren doch schließlich immer klar verteilt: Ich auf der Tribüne, die Mannschaft auf dem Rasen. Diese Barriere durchbrach ich erstmals, als ich mit dem BVB-Jahrhundertchor zum 100-Jahrfeier im Anstoßkreis auftreten durfte. Was für ein Tag! Ausgerechnet in der Meistersaison 2010/2011 durfte ich auch noch beruflich über die Heimspiele des BVB berichten. Und dann kam der Tag der Schalenübergabe auf dem heiligen, unerreichbaren Rasen. Ich mit Fotoleibchen und Kamera in unmittelbarer Nähe der Mannschaft, während Frau, Familie, Freunde oben auf der Tribüne standen – ein unfassbarers Gefühl. Dann trat mir auch noch der mit der Meisterschale in den Händen durch den Innenraum rasende Roman Weidenfeller mit seinem Stollenschuh auf den Fuß – er hatte die Schale, ich einen blauen Zeh als Trophäe.

Als ich dann auch noch in der Saison darauf vor jedem Heimspiel mit dem Jahrhundertchor auf den Rasen durfte, wurde die Nähe fast schon zur Gewohnheit. Ich kann nachempfinden, wie sich Kevin Großkreutz fühlen muss, wenn er für seinen Verein spielen darf. Er hat die Barriere zwischen Tribüne und Rasen überwunden – Dank seines Talents sogar als Spieler, ich wegen Talentlosigkeit als Journalist. Aber das ist egal. Jedes Mal, wenn ich durch eines der Tore, die das Spielfeld vom Zuschauerbereich trennen, gehe, kribbelt es in meinem Bauch. Ich. Im Innenraum. An der Strobelallee 50. Zu Hause.