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Joachim Deckarm: Wollen! Können! Müssen!

Joachim Deckarm: Wollen! Können! Müssen!

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Foto: WAZ

Vor 30 Jahren verunglückte Joachim Deckarm. Bis heute ist er auf Hilfe angewiesen. Zu seiner aktiven Zeit war er ein kompletter Handballer – der beste aller Zeiten.

Die Mannschaft saß noch in der Kabine, Bundestrainer Heiner Brand stimmte sie ein letztes Mal auf das Turnier der Turniere ein. Das Lampenfieber war ausgebrochen – Ansteckungsgefahr! Deutschland diskutierte an diesem 19. Januar 2007 aufgeregt über all die Schäden, die der Orkan Kyrill in der Nacht zuvor mit zerstörerischer Naturkraft angerichtet hatte, in der Max-Schmeling-Halle in Berlin aber war dies nur ein zweitrangiges Thema. Hier wurde die Handball-Weltmeisterschaft eröffnet, die deutsche Nationalmannschaft sollte ihrer Favoritenrolle gegen Außenseiter Brasilien gerecht werden.

Auf einem Ehrenplatz saß Joachim Deckarm. Er hatte Geburtstag an diesem Tag, wurde 53 Jahre alt. Als hätten die Organisatoren der WM an ihn gedacht, als sie den Terminplan festzurrten. Die Leute erhoben sich, feierten ihr Idol mit einem Ständchen. Wen dieser Augenblick nicht anrührte, der übernachtet in Kühlschränken.

Heiner Brand, damals in den Siebzigern Deckarms Mitspieler beim Vorzeigeklub VfL Gummersbach und in der Nationalmannschaft, die 1978 sensationell Weltmeister wurde, erinnert sich schwärmend: „Joachim hatte alles, was einen Klassehandballer ausmacht. Schnelligkeit, Sprungkraft, Wurfvariationen, Intelligenz.” Vlado Stenzel, der Weltmeistertrainer von ’78, nennt ihn den „komplettesten Handballer – wahrscheinlich aller Zeiten”. Deckarm war der Beste.

Tatabanya. Allein das Wort bringt die Erinnerung an den Schock zurück. Tatabanya ist das Synonym für einen der tragischsten Unfälle der Sportgeschichte. In dieser Stadt im Nordwesten Ungarns, 52 Kilometer von Budapest entfernt, endete abrupt die Karriere des Ausnahmehandballers Joachim Deckarm. In dieser Stadt wurde von einer Minute auf die andere aus einem kerngesunden Hochleistungssportler ein schwerkranker, pflegebedürftiger Mann.

Es war der 30. März 1979, Gummersbach spielte im Europapokal bei Banyasz Tatabanya. Jo Deckarm und der Ungar Lajos Panovic stießen in der Luft mit den Köpfen zusammen – bewusstlos stürzte Deckarm aus der Höhe, ungebremst knallte sein Kopf auf den betonierten Hallenboden.

Die Folgen waren fürchterlich. Gehirnquetschungen, doppelter Schädelbasisbruch, Hirnhautriss. Vier Monate lag Joachim Deckarm im Koma.

Als er erwachte, saß Heiner Brand am Krankenbett. „Er ist einer meiner besten Freunde, ich werde ihn niemals im Stich lassen”, sagt der Bundestrainer, der den Glauben an Jo Deckarm nie verlor. Auch nicht, als ihn die Ärzte drei Jahre nach dem Unfall als hoffnungslosen Pflegefall einstuften.

Er musste sich täglich quälen, alles wieder lernen. Die Motorik war schwer gestört, das Sprachzentrum ebenfalls. Sein ehemaliger Trainer Werner Hürter stand ihm zur Seite, entwickelte gezielte Trainingsprogramme, war jahrelang Joachim Deckarms persönlicher Therapeut. Werner Hürter verstarb 1995, noch immer muss Joachim Deckarm ganztägig begleitet werden. Er lebt in einer Einrichtung für betreutes Wohnen in seiner Heimatstadt Saarbrücken.

Er spricht langsam, aber verständlich. „Jeden Morgen sage ich zu mir: Ich will, ich kann und ich muss”, sagt Joachim Deckarm. Seine Eltern hatten ihm damals ein Schild mit diesem Motto ans Krankenbett gehängt.

Die Pflege soll bis zu 50 000 Euro im Jahr kosten, die Stiftung Deutsche Sporthilfe hat dafür seit 1980 einen Joachim-Deckarm-Fonds eingerichtet, der sich aus Spenden finanziert. Die Nationalmannschaft unterstützte ihn vor zwei Jahren mit einem Benefizspiel, das 100 000 Euro einbrachte.

Jo Deckarm ist nicht vergessen worden von der großen deutschen Handball-Familie. Er hat es verdient.