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7. Juli 1985 – Boris Becker und das Wunder von Wimbledon

7. Juli 1985 – Boris Becker und das Wunder von Wimbledon

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Heute vor 30 Jahren gewann Boris Becker zum ersten Mal den berühmtesten Tennistitel der Welt. Mit erst 17 Jahren war es der Beginn einer Weltkarriere.

London. 

Während der Championships könnte Boris Becker theoretisch zu Fuß zur Arbeit gehen; er lebt mit seiner zweiten Frau Lilly und dem gemeinsamen Sohn Amadeus seit einigen Jahren ganz in der Nähe. Aber er ist nicht allzu gut zu Fuß mit zwei künstlichen Hüften und einem versteiften Sprunggelenk. Es ist der Preis, den er für seine frühere Spielweise zahlen muss; hätte er sich Sprünge wie den berühmten Becker-Hecht erspart, ginge es ihm heute vielleicht besser, aber wer weiß? Außerdem: Er riss die Menschen schon vom ersten Tag an und danach immer wieder nicht nur deshalb vom Hocker, weil er mit 17, genau vor 30 Jahren, zum ersten Mal den berühmtesten Tennistitel der Welt gewann. Sondern auch wegen dieser ungestümen, wilden, halb wahnsinnigen Art, in der es tat.

Mit ungläubigem Staunen und zunehmender Faszination, die sich später bis zur Hysterie steigerte, verfolgte Deutschland an den Fernsehschirmen, wie dieser Junge in Wimbledon ein Spiel nach dem anderen gewann. Sein früher Mentor und Trainer Günther Bosch sagte mal, er habe nie begriffen, woher der Junge die innere Kraft genommen habe, das durchzustehen.

Als dieser Junge gemeinsam mit Bosch und dem schnauzbärtigen Manager Ion Tiriac am Abend vor dem Finale zu Fuß auf dem Weg aus einem Restaurant zurück ins Hotel in der Nähe des Earl’s Court war, tänzelte er über das Pflaster. Holte zu Vorhand und Rückhand aus, rollte mit der rechten Schulter, als bereite er sich auf den entscheidenden Aufschlag vor. Sein Gegner, der zehn Jahre ältere, gebürtige Südafrikaner Kevin Curren dachte, es läge in seiner Hand, den Titel zu gewinnen; er hatte auf dem Weg ins Finale den jungen Schweden Stefan Edberg und danach den Titelverteidiger John McEnroe und dessen Landsmann Jimmy Connors besiegt.

Curren spielte gut, aber nicht gut genug. Becker war aufgeregt, aber nicht nervös; er spielte so, als sei er schon zehn Jahre da gewesen. Sieht man sich die Aufnahmen dieses Finale heute, 30 Jahre danach, wieder an, dann kann man kaum glauben, mit welcher Überzeugung und Entschlossenheit dieser Erdbeerbubi aus seinem bis dahin überschaubaren Leben in ein Dasein als Weltstar stürmte.

Der erste, der kürzere Teil seines Lebens endete um 17.26 Ortszeit an jenem 7. Juli 1985, als der Ball von Currens Schläger beim Return ins Aus zischte. Alles, was danach passierte, hatte irgendwie mit diesem Moment des Sieges zu tun, der in seiner Bedeutung in der deutschen Sportgeschichte auf einer Ebene mit Max Schmelings Titelgewinn als Boxweltmeister aller Klassen und mit dem Triumph der Fußball-Nationalmannschaft im WM-Finale 1954 in Bern steht. Becker wurde auf alle Bühnen der Welt gestellt, und er war auf eine Weise präsent, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Er lernte im Schnelldurchgang Präsidenten, den Papst und Schauspieler kennen, Literaten wie Martin Walser schrieben voller Pathos über diesen jungen Mann, der im Expresstempo unter den neugierigen Augen der ganzen Welt erwachsen werden musste.

Dass er es schaffte, nach einer völlig wirren Zeit im Jahr danach wieder den Titel in Wimbledon zu gewinnen, ist vermutlich die größte sportliche Leistung seiner Karriere. Sie endete sportlich 1999; er hatte sechs Titel bei den Grand-Slam-Turnieren gewonnen, die im Tennis das Maß aller Dinge sind – drei in Wimbledon (´85, ´86, ´89), zwei in Melbourne (´91, ´96) und einen in New York (´89). Aber Wimbledon blieb das Zentrum seines Schaffens und seines Lebens. Sieben Mal spielte er im Finale, zuletzt vor 20 Jahren, als er zwar gegen den neuen Herrscher, Pete Sampras, verlor, aber vom Publikum gefeiert wurde. Seine Bilanz all der Jahre an diesem Ort? „Keiner weiß, wie schwer es war“, sagte er mal, „und keiner weiß, wie schön es war.“

In Deutschland konnte er es danach kaum noch jemandem recht machen. Bis aufs Kleinste wurden die Fehler, Doppelfehler und Fehltritte seines Lebens seziert, geschäftliche Flops diskutiert, und er trug seinen Teil dazu bei, indem er mancherlei Blödsinn mitmachte und manchmal den Eindruck vermittelte, als habe er den Überblick verloren.

In England störte das keinen. Während des Turniers hörten ihm die Leute gebannt zu, wenn er für die BBC im Fernsehen kommentierte und mit bedeutungsschwerer Stimme die Farbe des Himmels beschrieb. Und auch wenn das Turnier vorüber war, blieb er einer der wenigen deutschen Helden, die sich das Land gönnte.

Den Jahrestag seines eigenen ersten Sieges an dieser Stelle, mit dem er sich selbst und sein Leben in eine andere Umlaufbahn schoss, will Boris Becker nur am Rande zur Kenntnis nehmen. Nach gefühlt hundert Interviews zu diesem Thema, vor allem mit englischen Medien. Irgendwie ist er längst einer von ihnen; Wohnsitz, Herz und Heimat in SW 19.