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Die Flucht der jüdischen Frauen aus der KZ-Außenstelle Essen

Die Flucht der jüdischen Frauen aus der KZ-Außenstelle Essen

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Holocaustüberlebende
Sie waren von Auschwitz zur Zwangsarbeit nach Essen geschickt worden. Am 23. Februar 1945 gelang ihnen die Flucht. Mit Hilfe mehrerer Essener konnten sie sich bis zum Kriegsende verstecken. Vier der Frauen konnte die NRZ ausfindig machen. Die Geschichte ihrer Flucht, eine Geschichte vom Überleben.

Essen. 

Es ist der 23. Februar 1945. Die Fliegerbomben schlagen rund um das Lager ein, der Abendhimmel ist rot beleuchtet von den brennenden Häusern, die SS-Wachen sind im Bunker verschwunden, jetzt oder nie. Rosa Katz geht voran, sie kennt sich am besten aus, die fünf anderen jungen Frauen folgen, die Bomben haben Breschen in die Umzäunung des Lagers geschlagen.

Niemand hält sie auf. Vorsichtig schleichen sie sich durch die Stadt, verstecken sich in Trichtern, wohl wissend, dass sie mit den geschorenen Haaren und den grauen Häftlingslumpen sofort auffallen. Sie schaffen es, sie erreichen ihr Ziel, den alten jüdischen Friedhof an der Bottroper Straße und verstecken sich im Keller der zerstörten Leichenhalle. Glücklich. Gerettet. Für den Moment.

Erna Anolik ist im Dezember 90 Jahre alt geworden, sie lebt bei Philadelphia in den USA, sie hat nichts vergessen von den dramatischen Ereignissen in Essen vor fast 70 Jahren, als sie noch Erna Roth hieß: „Auf dem Friedhof haben wir zwei Tage gesessen, gefroren, gehungert. Dann kam plötzlich ein Mann vorbei, sah uns und fragte, was wir da zu suchen hätten.

Ich sprach ja deutsch und erklärte, dass wir eine Familie aus Duisburg seien, deren Haus zerbombt worden sei.“ Der Mann geht, aber die sechs Mädchen wissen nicht, ob er ihnen geglaubt hat. Sie wissen aber durchaus, dass sie nichts zu verlieren haben. Alle sechs sind über Auschwitz nach Essen gekommen. Alle sechs haben dort miterleben müssen, wie der Großteil ihrer Familien ermordet wurde.

Mädchen werden in einer Hausruine versteckt

Inzwischen ist ihre Flucht im KZ-Außenlager längst bemerkt worden. Den anderen jüdischen Zwangsarbeiterinnen erklären die SS-Wachen, dass die Ausreißerinnen gefangen und gehängt worden seien. In Wirklichkeit haben die sechs Kontakt zu einem Mann aufgenommen, Gerhard Marquardt, den sie als Kranführer von ihrer Zwangsarbeit bei Krupp kennen, dem sie vertrauen.

Erna: „Wir mussten hart arbeiten. Ich musste draußen Metallplatten tragen. Ohne Handschuhe. Bei Frost ist die Haut am Metall kleben geblieben. Das war furchtbar schmerzhaft. Aber einige Deutsche haben geholfen, uns was zu essen gebracht. Oder mir mal Schuhe besorgt, nachdem ich auf Stoffstreifen gelaufen bin.“

Marquardt versorgt die Mädchen zunächst mal mit Kartoffeln, versteckt sie in einer Hausruine. Seine Frau Erna bekommt das mit, ist außer sich. „Wenn das rauskommt, kriegen wir beide den Kopf ab.“ Aber dann macht sie doch mit, über Mittelsmänner werden Unterkünfte gefunden. Rosa Katz wird von einem SA-Mann versteckt, dessen Name nie bekannt wurde, Gisella Israel kommt beim Ofensetzer Schneider unter, die Geschwister Roth und Königsberg beim Lebensmittelhändler Fritz Niermann.

Erna erinnert sich gut an den Mann. „Der wunderbarste Mensch, dem ich in meinem Leben begegnet bin.“ Niermann richtet den vier Frauen einen Raum im Haus ein, er verbrennt die Sträflingskittel, gibt ihnen neue Kleider von seiner Frau und den Töchtern, die wegen der Bomben aufs Land evakuiert waren. „Zum ersten Mal seit über einem Jahr konnten wir ein Bad nehmen, endlich wieder ein Bett, endlich war ich wieder ein menschliches Wesen. Und er hat uns jeden Tag auf einer Karte gezeigt, wie weit die amerikanischen Truppen noch entfernt waren.“

Als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet

Rund um Marquardt und Niermann, die posthum vom Staat Israel als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet werden, hat sich ein kleiner Kreis von Gleichgesinnten verschworen. Aus einem späteren Brief Niermanns geht hervor, dass die Gruppe sich zu diesem Zeitpunkt schon bewaffnet hatte. Sie hätten die Mädchen nicht ohne Kampf der SS überlassen.

Niermanns Enkelin Beate Rothensee, die heute als Künstlerin in Berlin lebt, den Opa aber noch gut kennengelernt hat, kann etwas zu seiner Motivation sagen, das Leben zu riskieren: „Er war ein großer Humanist und ein überzeugter Christ. Er hat auch russische Zwangsarbeiter heimlich mit Essen versorgt. Als Kind war er mir sogar etwas unheimlich, weil er so bollerig war, heute weiß ich, es war dieser starke Wille, dieser Mut, der ihn das alles hat machen lassen.“

Der 11. April war der Tag der Erlösung

Die Amerikaner rücken in Essen ein. Erna und Elizabeth erfahren, dass auch ihr Vater in Auschwitz verhungert ist. Sie wollen nur noch weg. Eine kurze Zeit arbeitet Elizabeth noch in einem Offiziersclub in Mülheim, Erna bei der alliierten Kohlenkontrolle als Sekretärin. Die sitzt ausgerechnet in der Villa Hügel, dem Stammhaus der Familie Krupp. „Was für ein Luxus. Wir sind sogar in dem Pool der Villa geschwommen.“ Eine kleine Geste des Schicksals.

Später sagt sie Nürnberg im Prozess gegen Krupp aus. Als das Urteil fällt, ist sie schon in den USA. Und schwer verliebt. Ihr späterer Mann ist Funker auf dem Transportschiff. Das neue Leben beginnt. Die Erinnerung an die Helfer hält bis heute.