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Blindgänger in NRW – die „letzte Bombe“ wird es nie geben

Blindgänger in NRW – die „letzte Bombe“ wird es nie geben

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Kampfmittelräumdienst in Hagen Foto: Archiv/Franz Luthe
Der Zweite Weltkrieg wird in NRW noch Jahrzehnte gegenwärtig sein, sagt ein Experte. Die Zahl der Blindgänger sprengt wohl jedes Vorstellungsvermögen.

Essen. 

Der Zweite Weltkrieg ist über 70 Jahre her, doch nicht nur im Ruhrgebiet sind die Folgen nach wie vor gegenwärtig: Zehntausende Blindgänger dürften in NRW noch im Boden ’schlummern‘. Je tiefer sie liegen, desto sicherer ist es, sagt Armin Gebhard, 46, Referent im Bereich Kampfmittelbeseitigung im NRW-Innenministerium. Weil die Kraft einer Detonation abgedämpft würde, denn der Weltkriegsschrott habe kaum etwas von seiner Gefahr eingebüßt. Die 23 Bombenentschärfer in NRW, bei der Kampfmittelbeseitigung in den Bezirksregierungen Düsseldorf und Arnsberg und im zentralen Munitionszerlegebetrieb in Hünxe, werden jedenfalls noch für Jahrzehnte Arbeit haben, glaubt Gebhard: „Ein Ende ist nicht in Sicht“.

Wie stoßen Sie auf Blindgänger?

Armin Gebhard: Etwa 30 Prozent sind Zufallstreffer und werden zum Beispiel erst während Bauarbeiten entdeckt. Die meisten Blindgänger werden aber vorher aufgespürt, dank der Auswertung von Luftbildern der Alliierten, die ihre Luftangriffe damals dokumentiert haben. Seit Mitte der 1990er Jahren haben wir Zugriff auf diese Fotos, insgesamt für NRW mehr als 330.000 Aufnahmen. Sie werden auf Antrag der Kommunen, etwa vor Bauvorhaben, ausgewertet.

Warum lässt man Blindgänger nicht einfach im Boden liegen?

Gebhard: Es gibt keine Garantie, dass Bomben, die im zweiten Weltkrieg nicht detoniert sind, das nicht noch tun können. Sprengstoff verliert mit den Jahren zwar an Wirkung. Bomben, die in einigen Metern Tiefe fest umschlossen von Lehm liegen, sind im Prinzip noch wie fabrikneu und es hat sich an deren Gefährlichkeit nichts geändert. Und es ist nicht davon auszugehen, dass eine Bombe von sich aus irgendwann ungefährlich wird.

„Bomben mit US-Langzeitzünder werden noch am Fundort gesprengt“

Was wissen Sie über die Haltbarkeit von Blindgängern?

Gebhard: Das wird nicht systematisch analysiert. An erster Stelle steht für die Kampfmittelräumung, Blindgänger unschädlich zu machen und sie dann zu vernichten. Wenn ein mechanischer Zünder nach dem Aufprall nicht ausgelöst hat, dann wird er es sehr wahrscheinlich auch jetzt ohne äußeren Einfluss nicht mehr tun. Gefährlich sind vor allem chemisch-mechanische Langzeitzünder; diese Bomben sollten damals im Krieg nicht sofort explodieren, sondern die Aufräumarbeiten nach einem Bombenangriff torpedieren.

Welches sind die gefährlichsten Blindgänger-Typen?

Gebhard: Bomben mit US-Langzeitzünder sprengen wir in NRW grundsätzlich noch am Fundort. Bei britischen Langzeitzündern hängt die Entscheidung ab vom Zustand des Zünders.

Warum sind manche Bomben nach dem Aufprall eigentlich nicht detoniert?

Gebhard: Schätzungen zufolge sind fünf bis 20 Prozent der Bomben ‚blind‘ gegangen. Das konnte an fehlerhaft produzierten Zündern liegen oder anderen technischen Problemen. Bei einem einfachen Aufschlagzünder kam es zum Beispiel auf den richtigen Einschlagwinkel an; auch weicher Boden begünstigte die Zahl von Blindgängern. Militärischer Sprengstoff ist zudem unempfindlicher und explodiert schwer.

Staus durch Bombenentschärfungen sind in Kauf zu nehmen

In welcher Tiefe im Boden finden Sie Blindgänger?

Gebhard: Wir haben schon Bomben entdeckt, die nur wenige Zentimeter unter der Grasnarbe lagen. Die tiefste Bombe, mit der ich mal zu tun hatte, lag auf einem Industriegebiet in Dortmund 20 Meter unter der Erdoberfläche. Dort war nach dem Krieg Boden aufgefüllt worden. Üblicherweise sind Bomben in Tiefen von drei bis acht Meter in den Boden eingedrungen: 250 Kilo Stahl abgeworfen aus 4000 Meter Höhe entwickeln eine enorme Kraft! Je tiefer Blindgänger im Boden liegen, desto mehr wird die Auswirkung einer Detonation abgedämpft.

Welche zeitlichen Vorgaben gibt es für Entschärfungen?

Gebhard: Blindgänger in NRW müssen nach einem Fund möglichst unverzüglich entschärft werden. Dass Bahnstrecken dann zeitweise gesperrt werden müssen oder es zu Staus kommt, ist sekundär. Die Sicherheit hat Vorrang! Zudem gilt: die Entschärfung bei Tageslicht ist für die handelnden Personen immer besser als unter Kunstlicht.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Gebäude bei uns auf Blindgängern stehen?

Gebhard: Bombenfunde werden erst seit Mitte der 1970er Jahre systematisch erfasst und zum Beispiel auch genau kartiert. Nach dem Krieg lag der Fokus damals in den Ballungsräumen auf dem Wiederaufbau. Wo es augenscheinlich keine Blindgänger gab, wurde gebaut. Heute gilt: Bevor irgendwo etwas gebaut wird, muss dort intensiv nach Blindgängern gesucht werden.

800.000 Bombenabwürfe auf das Ruhrgebiet

Wieviele Bomben sind damals bei den Luftangriffen im Ruhrgebiet abgeworfen worden?

Gebhard: Es gibt nur Schätzungen, die zum Beispiel auf Beladungslisten von Bombern beruhen. Demnach sind alleine über dem Ruhrgebiet 160.000 Tonnen Bombenlast abgeworfen worden, zwischen 1942 und 1945. In Essen etwa 40.000 Tonnen, über Duisburg ungefähr 30.000 Tonnen, für Köln werden 28.000 Tonnen geschätzt, für Dortmund 20.000 Tonnen und für Bochum 10.000 Tonnen.

Auf wieviele Bomben läuft das hinaus?

Gebhard: Alleine für das Ruhrgebiet lassen sich aus den Schätzungen etwa 800.000 Bomben errechnen.

Und wie viele Bomben hat die Kampfmittelbeseitigung in NRW seit ihrer Gründung 1948 schon entschärft?

Gebhard: Das wurde in den Anfangsjahren nie genau erfasst. Für die vergangenen 20 Jahre kommen wir auf etwa 6000 Bomben ab 50 Kilo Gewicht.

Wann wird die letzte Bombe in NRW gefunden sein?

Gebhard: Ein Ende ist nicht in Sicht. Und selbst wenn in Jahrzehnten vielleicht einmal das letzte Luftbild ausgewertet worden ist: Wir werden auch dann die letzte Bombe nicht gefunden haben.