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Recep Tayyip Erdogan: Hinfallen, aufstehen, mächtiger werden

Recep Tayyip Erdogan: Hinfallen, aufstehen, mächtiger werden

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Recep Tayyip Erdogan: Hinfallen, aufstehen, mächtiger werden

Recep Tayyip Erdogan: Hinfallen, aufstehen, mächtiger werden

Nach dem Referendum: Vorwärts, immer – das Prinzip Erdogan

Erdogan: Für die einen ist er schlichtweg ein Diktator, für die anderen ein Supermann: Die sieben Leben des türkischen Präsidenten, kurz erklärt.

Er hat schon einiges weggesteckt, vom Berufsverbot bis zur Haftstrafe. Nun steht Präsident Erdogan vor seinem größten politischen Coup.

Ankara. 

Politisch Totgesagte leben länger. Dafür gibt es kein besseres Beispiel als Recep Tayyip Erdogan. Beim Verfassungsreferendum hat der türkische Staatschef auf Zustimmung der Wähler zu seinem geplanten Präsidialsystem gehofft. Und so wie es aussieht, hat er die auch bekommen. Das neue System wird Erdogans Machtfülle massiv erweitern und seine Stellung an der Staatsspitze zementieren – möglicherweise bis weit in die 2030er Jahre hinein.

Dabei wurde Erdogan von seinen Gegnern immer wieder abgeschrieben. Was hat der 63-Jährige nicht schon alles weggesteckt: eine Haftstrafe und ein politisches Berufsverbot wegen islamistischer Hetze, eine schwere Krankheit, Zweifel an seinem akademischen Grad, die landesweiten Massenproteste vom Sommer 2013, die wenige Monate später aufgekommen Korruptionsvorwürfe und den Putschversuch vom Juli 2016.

Erdogan wollte Profi-Fußballer werden

Kämpfen kann er. Das hat er schon als Junge gelernt im Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa, wo man kräftige Ellenbogen und starke Fäuste braucht, um sich zu behaupten. Der Sohn einer aus Georgien eingewanderten Seemannsfamilie verdiente sich sein Taschengeld in den Straßen von Kasimpasa mit dem Verkauf von Limonade und Sesamkringeln.

Eine hoffnungsvolle Karriere als Profi-Fußballer musste Erdogan aufgeben. Sein frommer Vater schickte ihn nicht auf den Rasen sondern auf eine Imam Hatip Schule, ein islamisches Priestergymnasium. Mitschüler gaben Erdogan den Spitznamen „Koran-Nachtigall“ – weil er so schön aus dem Heiligen Buch rezitieren konnte.

Aus islamischen Reformkräften wurde die AKP

Doch den talentierten Vorbeter zog es in die Politik. Seine politische Laufbahn begann er in der islamisch-fundamentalistischen Wohlfahrtspartei, als deren Kandidat er 1994 überraschend die Oberbürgermeisterwahl in Istanbul gewinnen konnte. Er verlor das Amt vier Jahre später mit dem Verbot der Partei. Dann folgten Haft und Politik-Bann.

Ein erster Rückschlag, den Erdogan aber schnell hinter sich ließ. 2001 sammelte er Reformkräfte aus der islamischen Bewegung um sich und gründete die gemäßigt auftretende AKP. Damals befand sich die Türkei in der schwersten Finanzkrise ihrer jüngeren Geschichte, die alten Parteien hatten abgewirtschaftet – ein Glücksfall für Erdogan: Bei den Wahlen vom November 2002 gewann die AKP aus dem Stand heraus die absolute Mehrheit.

Erdogan wird als „Vater des Wirtschaftswunders verehrt“

Unter Erdogan ging es in den folgenden Jahren wirtschaftlich steil nach oben. In seinen ersten zehn Regierungsjahren verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen. Viele Türken verehren ihn seither als „Vater des Wirtschaftswunders“.

Ein Hoffnungsträger war Erdogan aber auch für viele Europäer: Mit demokratischen Reformen wie der Abschaffung der Todesstrafe ebnete Erdogan den Weg für Beitrittsverhandlungen. 2004 wurde Erdogan in Berlin als „Europäer des Jahres“ geehrt. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder würdigte die „herausragende staatsmännische Leistung“ des „großen Reformpolitikers“ Erdogan.

Nun zeigt Erdogan sein wahres Gesicht

Dass es nun ausgerechnet Erdogan ist, der demokratische Rechte massiv einschränktund sogar die Todesstrafe wieder einführen will, scheint ein Widerspruch zu sein. Kritiker erklären ihn damit, dass Erdogan jetzt sein wahres Gesicht zeige.

Die Anlehnung an Europa sei nur ein Instrument gewesen, um unter Berufung auf die Reformforderungen der EU den politischen Einfluss der Militärs zurückzudrängen. Erdogan selbst hatte schon 1998 einen berühmt gewordenen Vers zitiert: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“

Für viele Anatolier ist Erdogan ein Idol

Ein wichtiges Ziel erreichte Erdogan 2014 mit der Wahl zum Staatspräsidenten. Damit kam ein Politiker, der nicht aus der weltlich geprägten und nach Westen orientierten kemalistischen Elite oder dem Militär stammt, ins höchste Staatsamt. Sein Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen macht Erdogan für viele Anatolier zum Idol. Er personifiziert das Emporkommen einer neuen sozialen und politischen Klasse, der ländlichen „schwarzen Türken“, auf die die urbanen „weißen Türken“ bis dahin herabsahen.

Ungeachtet der Grenzen der Verfassung zog Erdogan seit seiner Wahl immer mehr Kompetenzen an sich. Jetzt will er mit der Verfassungsänderung jene Machtfülle legalisieren, die er sich selbst längst genommen hat. Zum entscheidenden Anstoß wurde der Putschversuch vom Juli 2016, hinter dem Erdogan seinen einstigen Verbündeten und heutigen Widersacher vermutet, den Exil-Prediger Fethullah Gülen. Erdogan selbst bezeichnete den Umsturzversuch schon am Tag danach als „Geschenk Gottes“ – weil er ihm den Anlass lieferte, mit seinen Gegnern abzurechnen.

Putschversuch stärkte Erdogan

Je mächtiger Erdogan wird, desto mehr scheint auch sein Misstrauen zu wachsen. Das erklärt die willkürlich wirkenden Massenverfolgungen mutmaßlicher Gülen-Anhänger, regierungskritischer Akademiker und missliebiger Journalisten. Über 135.000 Staatsdiener hat Erdogan im Verlauf dieser Hexenjagd bereits per Dekret entlassen, ihre Existenzen zerstört.

So hat der Putschversuch Erdogan noch einmal gestärkt. Im Kampf um die Ja-Stimmen beim Verfassungsreferendum setzte er mehr denn je auf Polarisierung und Provokation. Er dämonisierte die Nein-Sager als Terroristen und Verräter, beschimpfte die Europäer als Nazis und Faschisten.

2019 will sich Erdogan nach dem Ablauf seiner gegenwärtigen Amtszeit unter dem neuen System zum Präsidenten wählen lassen. Die Uhr wird dann wieder auf null gestellt. Erdogan könnte die Türkei bis ins Jahr 2034 führen. Er wäre dann 80.

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